Interview: Hochbegabte – die vergessene Ressource
Haufe Online-Redaktion: Was unterscheidet Hochbegabte von "gewöhnlichen" Mitarbeitern?
Karin Rasmussen: Hochbegabte sind keine ungewöhnlichen Mitarbeiter. Was sie jedoch von anderen unterscheidet, ist ihre Denkweise. Sie können schneller und komplexer mit Informationen umgehen, sie meistens auch tiefgründiger und genauer verarbeiten. Hinzu kommt, dass sie andere Gedächtnistechniken nutzen. Sie denken in der Regel sehr assoziativ und verknüpfen Informationen stärker miteinander. Überdurchschnittlich intelligente Menschen nehmen also nicht nur weitaus mehr wahr als andere, sie lernen zugleich auch schneller.
Haufe Online-Redaktion: Inwiefern können sich aufgrund der Schnelligkeit ihrer Denkprozesse auch Fehler einschleichen?
Rasmussen: Hier handelt es sich um ein weit verbreitetes Klischee. Das Motto "Du denkst zuviel, deshalb denkst du falsch" stimmt so nicht. Fehler sind de facto keine Frage des Tempos, sondern der Qualität der Informationen. Auch der Bildungshintergrund spielt hierbei eine wichtige Rolle. Schneller zu Lösungen zu kommen, bringt nicht sehr viel, wenn es einem am fachlichen Hintergrund mangelt. Hochbegabung allein reicht letztlich nicht aus, um erfolgreich zu sein. Bildung ist das A und O. Aber Vorsicht: Intelligenz ist zu großen Teilen genetisch bedingt und kann nicht künstlich erzeugt werden. Man kann lediglich die vorhandene Intelligenz durch Bildung fördern.
Haufe Online-Redaktion: Welche weiteren Klischees erschweren den richtigen Umgang mit Hochbegabten?
Rasmussen: Besonders hartnäckig hält sich die Annahme, dass ein hoher Intelligenzquotient zugleich Klugheit bedeutet. Klugheit hängt aber vor allem von der Bildung ab und beides zusammen genommen, ist sehr zeitbezogen. Leonardo da Vinci war beispielsweise wegen seiner Hubschrauber-Entwürfe als Spinner verschrien. Das heißt, Ideen, die heute nicht als klug gelten, müssen noch lange nicht falsch oder gar dumm sein. Da Vinci war schlicht seiner Zeit voraus. Des Weiteren ist es ein gängiges Vorurteil, dass Hochbegabte immer Schwierigkeiten haben. Dies stimmt nicht. Studien haben gezeigt, dass lediglich zehn Prozent von ihnen im Laufe ihres Lebens Probleme haben. Überdurchschnittlich intelligente Menschen sind somit keinesfalls eine Problemgruppe, vielmehr eine vergessene Ressource, die wir bisher unzureichend nutzen. Das betrifft besonders die Generation, die jetzt über 30 ist.
Haufe Online-Redaktion: Warum gerade diese Altersgruppe?
Rasmussen: Zu der Zeit als sie jung waren, gab es noch keine spezielle Förderung von Hochbegabten. Viele wissen teilweise bis heute nicht, dass sie hochbegabt sind. Hinzu kommt, dass Kinder häufig dazu erzogen wurden, fleißig ihre Aufgaben zu machen und sonst nicht aufzufallen. In letzter Konsequenz ist vieles auch eine Frage der Erziehung.
Haufe Online-Redaktion: Wie sollten Personaler nun mit Hochbegabten konkret umgehen?
Rasmussen: Ich glaube, dass Hochbegabte keine besondere Behandlung bräuchten, wenn wir es endlich schaffen würden, jeden Mitarbeiter ernst zu nehmen. Doch davon sind wir noch weit entfernt. Bei uns zählt nach wie vor eine Bildungshierarchie, in der jemand mit einem Hochschulabschluss mehr Wert ist als jemand mit einer Berufsausbildung. Fatal daran: Der Abschluss sagt de facto wenig über den Menschen aus, den ich vor mir habe. Wie geht er zum Beispiel mit Problemen um? Was will er wirklich erreichen? Das bekommt man nur mit, wenn man ein ernstes Interesse an dem Menschen zeigt und ihm genau zuhört.
Haufe Online-Redaktion: Apropos Anerkennung… Ist Hochbegabten dies besonders wichtig?
Rasmussen: Hochbegabte Mitarbeiter brauchen nicht mehr Anerkennung als andere. Entscheidend ist, dass sie überhaupt welche bekommen. Die erhalten sie noch zu wenig. Da sie mehr leisten als andere, sollte man dies auch entsprechend würdigen. Dazu gehört vor allem, dass man akzeptiert, dass Hochbegabte sich weiterentwickeln wollen. Sie mögen letztlich keine Routine-Tätigkeiten – im Gegenteil: Sie suchen bewusst die Abwechslung und Herausforderung. Sie um jeden Preis im Unternehmen zu halten beziehungsweise sie in Positionen zu drängen, in denen sie nicht glücklich werden, ist somit der falsche Weg.
Haufe Online-Redaktion: Gibt es bestimmte Tätigkeitsfelder, in denen Hochbegabte am besten aufgehoben sind?
Rasmussen: Ja, überall dort, wo es darum geht, etwas zu erforschen und Neues zu erfinden oder aus dem vorhandenen Wissen etwas Neuartiges zu entwickeln, sei es beispielsweise in der Forschung & Entwicklung, als Manager eines Start-up-Unternehmens oder als IT-Programmierer. Hauptsache, man kann seinen Wissensdurst und seine Experimentierfreude frei ausleben. Sinnvoll sind auch so genannte "Kritik-Jobs", wo es darauf ankommt, Lücken im System zu finden, wie zum Beispiel im Qualitätsmanagement, in der Risikoanalyse oder in der Unternehmensberatung.
Haufe Online-Redaktion: Was wäre Ihrer Meinung nach der größte Fehler, den Personalentwickler unbedingt vermeiden sollten?
Rasmussen: Wenn ein Mitarbeiter eigene Ideen und Vorschläge zu seiner Weiterentwicklung hat, sollte man genau zuhören. Da alle Unternehmen gegenwärtig und erst Recht in Zukunft massive Veränderungsprozesse durchlaufen, ist ein aktuell oder kurzfristig gültiger "Stellenplan" nicht das Ende der Weisheit. Es ist besser, im eigenen Unternehmen einen zukunftsträchtigen Arbeitsplatz zu finden beziehungsweise zu schaffen, als ständig über zunehmenden Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt zu klagen.
Das Interview führte Nicole Schrehardt.
Dr. Karin Rasmussen
ist seit vielen Jahren als Dozentin, Trainerin und Beraterin in zahlreichen Projekten und Kursen zur Führungskräfteentwicklung für die Wirtschaft tätig. Darüber hinaus engagiert sie sich als Mitglied und Testleiterin bei Mensa in Deutschland e.V. auch für die Förderung von Hochbegabten.
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