Wie geht das: Sich gemeinsam selbst entfalten?


Kolumne Leadership: Sich gemeinsam selbst entfalten

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Wenn jeder führt und sich entfaltet, wo bleibt dann der Gemeinsinn?

Wir leben zunehmend in einer Gesellschaft der Singularitäten. Der Mensch des 21. Jahrhunderts sieht sich als etwas Besonderes und will als einzigartig wahrgenommen werden – in allen Lebensbereichen: Wie er wohnt, wo er Urlaub macht, was er isst, was er kauft. Nicht das Allgemeine und Funktionale begeistert und erfüllt diesen Zeitgenossen, sondern das Besondere. Das gilt auch für die Welt der Arbeit und seine Rolle darin.

Rädchen im Getriebe sein, ein Partikel in der grauen Masse Personal, gar eine Humanressource? Geht gar nicht. Einer Routinetätigkeit nachgehen, Dinge abarbeiten, funktionieren? Vergiss es! Der Mensch in der Gesellschaft der Singularitäten will nicht mehr Mittel zum Zweck sein. Der singuläre Mensch ist Selbstzweck. Punkt.

Talente wollen und sollen sich entfalten

Das ist die These des Kultursoziologen Andreas Reckwitz in seinem viel beachteten Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne“ (2017). Der Trend zur Selbstentfaltung setzt nach Reckwitz in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein.  Der Professor von der Viadrina Universität in Frankfurt/Oder spricht von einer „Authentizitätsrevolution“ in der postindustriellen Ära. Diese Revolution hilft auch zu verstehen, warum heute Arbeitnehmer lieber Talent als Mitarbeiter genannt werden. Denn der Mitarbeiter arbeitet eben mit, das Talent dagegen entfaltet seine vielfältigen Anlagen.

Dass das mehr als eine schlüssige Theorie ist, zeigt die Studie „Wertewelten Arbeiten 4.0“ im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 2016. Dafür hat das Forschungs- und Beratungsunternehmen Nextpractice tausend Berufstätige in Tiefeninterviews dazu befragt, wie sie heute ihre Arbeit erleben und wie sie sich diese für das Jahr 2030 erhoffen. Herausgekommen sind sieben durchaus unterschiedliche Vorstellungswelten. Eine Konstante über alle hinweg war allerdings die Erwartung, dass der individuelle Gestaltungsspielraum und die Möglichkeiten zur Selbstentfaltung steigen.

Wie entsteht unter Individualisten noch Gemeinschaft?

Wenn sich aber jeder selbst entfaltet und jeder seinen eigenen Zwecken dient, wie entsteht dann noch Gemeinschaft, wie gelingt dann die so dringend benötigte Zusammenarbeit?

Die Frage ist nicht neu. In der Sozialpsychologie und der Organisationstheorie wird sie schon lange gestellt. Mit Blick auf die „Authentizitätsrevolution“ und den Ruf nach Selbstentfaltung und Gestaltungsspielraum gewinnt sie aber an Schärfe.

Denn die drei Treiber von Einsatzbereitschaft am Arbeitsplatz, wie sie Dank Pink in seinem Buch „Drive“ (2009) herausgearbeitet hat, dürften in der Gesellschaft der Singularitäten noch stärker ich-bezogen ausfallen als in der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) des Industriezeitalters. Die drei Treiber nach Pink sind: Autonomie, Selbstvervollkommnung und Sinn („autonomy, mastery, and purpose“).

Zwei Aufgaben der Führung

Die Kunst der Führung im Zeitalter der Kollaboration von selbstbestimmten Individuen wird daher stärker denn je zweierlei umfassen. Erstens: den Rahmen zu geben, dass diese Individuen sich entfalten und stetig in ihren Fähigkeiten verbessern können. Zweitens: Sinn zu stiften, der die Selbstentfaltungsabsicht mit dem angestrebten Ziel der Gruppe und des Unternehmens in Einklang bringt. Der Blogger, Berater und Gamification-Experte Roman Rackwitz nennt das treffend die Herstellung von „kollaborativem Individualismus“.

Und wie kann das gelingen? Erstens: Indem Chefs viel Energie und Hirn darauf verwenden, die Vision sowie die Strategie des Unternehmens und den Sinn konkreter Vorhaben aufzuzeigen. Zweitens: Indem sie dafür sorgen, dass die Projekt- und Unternehmensziele in einer Kultur der Kollaboration und des Lernens verwirklicht werden. Wer bestmögliche Autonomie und Selbstvervollkommnung aller gewährleisten will, der muss Könnerschaft zum obersten Maßstab von Führen und Folgen machen. Und das auch selbst beherzigen und vorleben.

Könnerschaft und Lernen wird zum Maß aller Dinge

Konkret heißt das: Jenseits der Aufgabe, Ziele und Strategien vorzugeben, haben formale Führungskräfte sich einzufügen in eine Gemeinschaft aus Könnern, von denen aufgabenbezogen jeweils der in Führung geht, der die besten Voraussetzungen hierfür mitbringt. Da heißt es als Chef, sich in Sach- und Umsetzungsfragen zurückzunehmen und von den Kollegen zu lernen.

Was und wie etwas gemacht wird, entscheiden Projektgruppen in dieser Welt zunehmend selbst. Sie delegieren die Führungsverantwortung an diejenige oder denjenigen, die oder der das Wissen, die Erfahrung, aber auch die Energie und Leidenschaft mitbringt, in dieser Aufgabe voranzugehen und die anderen mitzunehmen.

Jeder muss führen und folgen – und tut dies gerne

Ist Könnerschaft der oberste Maßstab, wird auch das zu Unrecht abschätzig betrachtete „Folgen“ für Selbstentfalter und Autonomiesucher leichter. Denn die, die folgen, bestimmen über den, dem sie folgen. Und tun das sogar noch gerne. Das hat zwei Gründe: Zum einen, weil sie unter dieser Führung etwas lernen und bewegen können. Zum anderen, weil sie wissen, dass auch sie in Führung gehen können. Dort nämlich, wo sie selbst mehr Könner- und Leidenschaft mitbringen als andere. Das kann schon in der nächsten Fragestellung, im nächsten Projekt zum Tragen kommen.

Der Umantis-Gründer und Vordenker der Unternehmensdemokratie Hermann Arnold bringt es in seinem Buch „Wir sind Chef“ (2012) auf den Punkt: „Jeder muss führen und folgen können“. Und jeder entwickelt dabei sich und andere. Das Beste daran: Das alles geschieht beim Umsetzen der Unternehmensziele.


Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen in Organisationen und auf Märkten dabei, dank ihres Wissens und ihrer Ideen in Führung zu gehen.

Schlagworte zum Thema:  Leadership, Mitarbeiterführung, New Work