Mehr Stress, bitte!


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Kolumne Personalentwicklung: Mehr Stress, bitte!

Stress gilt in deutschen Büros als Todfeind der Mitarbeiterzufriedenheit und Grundübel vieler Ausfallerscheinungen. Dem negativen Ruf von Stress in der Arbeitswelt widerspricht Personalentwickler Oliver Maassen diesmal in seiner Kolumne: Er hält sogar ein Plädoyer für mehr Stress.

Wenn Ihr Adrenalinlevel schon beim Lesen der Überschrift stark angestiegen ist, gehören Sie zu den 82 Prozent deutscher Arbeitnehmer, für die weniger Stress der größte Wunsch im beruflichen Alltag ist. Und ganz sicher wird Ihnen dann dieser Artikel wenig Freude bereiten, denn hier wird für mehr Stress in deutschen Büroetagen geworben.

Weiterlesen empfehle ich dennoch, denn es wird etwas differenzierter, als die Überschrift angedeutet. Und es gibt auch eine gute Nachricht: Der gute Umgang mit Stress ist trainierbar.

Die Unterschiede zwischen Disstress und Eustress

Hans Selye, der Pioneer der Stressforschung, hat schon Mitte des vorigen Jahrhunderts zwischen "Disstress" und "Eustress" unterschieden hat. Disstress ist negativ und entsteht vor allem dann, wenn wir Situationen machtlos ausgeliefert sind. Krankheit oder Tod von nahen Angehörigen lösen solchen Stress aus. Auch kleinere Ursachen, wie ein simpler Stau, können große Folgen haben, wie Michael Douglas uns eindrucksvoll im Blockbuster "Falling Down" dokumentiert hat.

Eustress dagegen entsteht zum Beispiel bei der Geburt eines Kindes oder der Vorfreude eines Schauspielers auf seine Theaterpremiere. Positiver Stress kann Kräfte freisetzen. Wir wirken wacher, schärfen unsere Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit und erhöhen die Muskelspannung. Es ist genau diese Art von Stress, die für unseren beruflichen Erfolg eine entscheidende Bedeutung spielt.

Deutsche haben Angst, ihr Arbeitspensum nicht zu schaffen

Wie genau wir eine Stresssituation erleben, hängt von vielen Einzelfaktoren ab und ist individuell sehr unterschiedlich. Während der eine beim Fahren auf einer Achterbahn negativen Stress erlebt, ist für den anderen der Nervenkitzel das Höchste der Gefühle.

Wir Deutschen nehmen die grundlegenden Ursachen von Stress anders wahr, als die Menschen in anderen Teilen der Welt. Eine GFK-Analyse von 2015 belegt, dass in vielen Ländern Menschen die Angst umtreibt, dass das Geld nicht reichen könnte, so zum Beispiel in Spanien, Frankreich, aber auch in Russland oder den USA, wo dieses Phänomen der häufigste Stress auslösende Faktor ist.

Interessanterweise ist die Wahrnehmung in Deutschland ganz anders: Geldsorgen spielen eine deutlich geringere Rolle als in anderen Ländern. Hingegen fürchtet hier jeder Vierte, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen. Die Deutschen gehören zu den wenigen Nationalitäten, die Sorge davor haben, ihr Arbeitspensum nicht zu schaffen.

Kurzzeitiger Stress stärkt die Immunabwehr

Im Jahr 2009 konnte der Neuroimmunologe und Psychiatrie-Professor Firdaus Dhabhar von der Stanford University nachweisen, dass kurzzeitiger Stress die Immunabwehr stärkt. Dhabhar zeigte, wie Stress die Anzahl der weißen Blutkörper­chen erhöht und damit unsere Immunabwehr ankurbelt.

Patienten vor einer Impfung auf dem Ergometer strampeln zu lassen, verbessert also ihre Abwehrkräfte. Auch in der Chirurgie und Krebsforschung spielt Stress eine wichtige Rolle. In der Medizin setzt sich immer stärker die Einsicht durch, dass kurzfristiger Stress die Selbstheilungskräfte aktivieren kann.

Stress kann bei der Zielerreichung helfen

In der Personalentwicklung sind wir von derartigen Erkenntnissen noch relativ weit entfernt. Die US-amerikanische Psychologin und Bestsellerautorin Larina Kase weist darauf hin, dass Stress oft der Vorgänger oder Begleiter von kreativen Durchbrüchen ist, eine Hypothese, die viele Journalisten und Autoren bestätigen werden.

Wenn ich wieder einmal gebummelt habe und diese Kolumne erst auf die letzte Minute vor der Deadline in Angriff nehme, so entstehen doch ab und an unter genau diesem Stress die kreativsten Beiträge. Übertragen wir diese Erfahrung auf Lernen und Entwicklung, so trägt ein gewisses Maß an Stress zur Zielerreichung bei ­– insbesondere wenn es sich um kreativ zu lösende Herausforderungen handelt.

Wer für Stresssituationen gecoacht ist, tritt selbstsicherer auf

Wie aber können wir das Positive im Stress für uns nutzbar machen ohne dass die negativen Belastungsseiten die Überhand gewinnen? Teilneh­mer einer Harvard-Studie sollten vor Publikum über ihre Schwächen sprechen und eine Matheaufgabe lösen, wobei die Zuhörer durchweg negative Rückmeldungen gaben und zum Beispiel die Augen verdrehten.

Die eine Hälfte der Probanden wurde durch einen Coach darauf vorbereitet, die zu erwartende Stressreaktion als Chance zu betrachten. Also Atemlosigkeit und Schwitzen nicht als Zeichen von Angst zu begreifen, sondern als Hinweis auf die enorme Energie, die ihr Körper für den Auftritt aktivierte. Die Gecoachten traten erheblich selbstsicherer auf als diejeni­gen, die dem Stress unvorbereitet begegneten.

Positive Stresswahrnehmung ist Teil von Stressmanagement

Eine entsprechende Vorbereitung hilft uns also, den Stress anders wahrzunehmen und in positivere Bahnen umzulenken. Diese Umlenkung ist trainierbar und wird bereits in guten Stressmanagement-Kursen auch angeboten. Individueller und zielführender ist ein Coaching, das auf die jeweilige Umfeldsituation des Menschen genauer eingehen kann.

Als Personalentwickler und Führungskräfte sollten wir ein differenziertes Bild über Stress haben und wissen, wie Belastungen zu positiv stimulierendem Handeln genutzt werden können.

Der Druck wächst in unseren Unternehmen und damit auch die Notwendigkeit negativen Stress zu bekämpfen und dabei gleichzeitig die positiven Elemente in den Vordergrund zu stellen. Eine echte Herausforderung für die Personalentwicklung.

Terminhinweis: Das Thema "Stress" ist auch Schwerpunkt des diesjährigen Kongresses des Beratungsunternehmens Pawlik.

Alle Beiträge zum Thema "Personalentwicklung" finden Sie auf dieser Themenseite.

Kolumnist Oliver Maassen

Oliver Maassen ist seit 2013 Geschäftsführer der  Pawlik Consultants GmbH. Zuvor war er unter anderem Bereichsvorstand und Personalchef der Unicredit Bank. In seinen früheren Funktionen verantwortete er die Bereiche Personal- und Organisationsentwicklung, Führungstrainings, Personalmarketing und Talent Management. Er ist Gründungsvorstand der Zukunftsallianz Arbeit und Gesellschaft (ZAAG).