Stellen Sie sich einmal vor, Sie kommen des Morgens ins Unternehmen und schon gleich an der Pforte steckt Ihnen der freundliche Mann vom Werkschutz zehn Euro in die Jackentasche. Gegen 11:00 Uhr macht der Chef die Runde durch die Büros, dankt Ihnen mit Tränen in den Augen dafür, dass Sie heute wieder für das Unternehmen tätig sein wollen, und hinterlässt nicht nur einen warmen Händedruck, sondern gleich auch noch 50 Euro. Beim Meeting mit den Kollegen am frühen Nachmittag wirft ein Automat für jede Minute, in der Sie vor sich hin stoffwechseln, eine Goldmünze aus. Und wenn Sie nicht vor 15:00 Uhr die Firma verlassen, gibt es zum Abschied noch ein kleines Leckerli.
Laborexperimente an Ratten als Vorbild für Motivationsmaßnahmen?
Manch einer, der Psychologie studiert hat, fühlt sich hier an den guten alten Fred Skinner erinnert, der in seinen Laborexperimenten über einen ganz ähnlichen Weg versuchte, das Verhalten seiner Probanden in gewünschte Bahnen zu lenken. Allerdings handelte es sich bei seinen Untersuchungsteilnehmern um Ratten beziehungsweise Tauben, und statt des Erscheinens am Arbeitsplatz mussten die Tiere eine anspruchsvolle Aufgabe erfüllen.
Bonus für die bloße Anwesenheit im Job
Gut, in der Forschung ist vieles möglich, aber doch nicht in großen Unternehmen. Kein Arbeitgeber käme heute auf die Idee, jemanden schon dafür zu belohnen, dass er morgens am Arbeitsplatz erscheint, während der Arbeitszeit nicht schläft und bis zum Ende des Arbeitstages durchhält, oder?
Nun, ganz so sicher kann man sich da nicht mehr sein. Inzwischen gibt es durchaus Großunternehmen, die ihren Mitarbeitern einen Bonus auszahlen, wenn diese so lieb sind, regelmäßig ihren Arbeitsvertrag zu erfüllen.
Gehen wir einmal davon aus, dass der prozentuale Anteil eingefleischter Skinnerianer in deutschen Personalabteilungen gegen null tendiert und sich auch keine Unternehmensberatung mit dem Produkt „Anwesenheitsboni“ eine goldene Nase verdienen kann, so wird es wohl in diesen Unternehmen ein Problem mit Absentismus gegeben. Zu oft sind zu viele Mitarbeiter nicht am Arbeitsplatz und dies versucht man, mit Boni in den Griff zu bekommen.
Warum ein Anwesenheitsbonus nicht gegen Absentismus hilft
Auf den ersten Blick vielleicht gar keine schlechte Idee – aber eben nur auf den ersten Blick. Hier die Gründe für die Kritik:
- Der Absentismus – also die Nicht-Anwesenheit am Arbeitsplatz – kann völlig unterschiedliche Gründe haben. Manche Mitarbeiter sind krank. Einige leiden unter Mobbing und suchen jeden Ausweg, um möglichst wenig Zeit am Arbeitsplatz zu verbringen. Andere sind einfach unzufrieden und versuchen, ihren Input an Arbeitsleistung so weit zu reduzieren, dass er in einem ausgewogenen Verhältnis zum Outcome (Gehalt, Lob et cetera) steht. Sie lassen sich daher krankschreiben, kommen morgens zu spät oder überziehen die Pausen. Wieder andere machen einfach blau, weil keine Konsequenzen drohen und die Kollegen sich auch immer mal wieder eine Auszeit gönnen. Wer bei unterschiedlichen Ursachen immer die gleiche Lösungsstrategie fährt, wird keine guten Ergebnisse erzielen können.
- Wer kranke Menschen mit zusätzlichem Geld zum Arbeitsplatz lockt, agiert allzu kurzsichtig. Die Betroffenen werden während der Arbeitszeit nicht die übliche Leistung bringen, vielleicht sogar Fehler manchen und in manchen Fällen später länger ausfallen, weil sie die Krankheit nicht auskurieren konnten.
- Mobbingopfer wird man durch Geld kaum anlocken können. Zudem werden sie indirekt bestraft, wenn die Mobbingtäter einen Bonus einstreichen, während ihre Opfer sich nicht zur Arbeit trauen und leer ausgehen.
- Mitarbeiter, die einfach blaumachen, werden für ihr vertragswidriges Verhalten belohnt.
- Kollegen, für die es selbstverständlich ist, Arbeitszeiten einzuhalten – und dies dürfte hoffentlich für die Mehrheit der Belegschaft gelten –, werden für ein Verhalten extrinsisch belohnt, für das sie intrinsisch bereits hinreichend motiviert waren. Dies wiederum senkt die intrinsische Motivation. Der Bonus richtet daher in der Breite mehr Schaden an, als dass er Nutzen bringt.
- Da die bloße Anwesenheit in den Vordergrund rückt, stellt sich so mancher Mitarbeiter die Frage, wie wichtig denn eigentlich noch die Leistung ist.
- Einmal eingeführt, wird man aus der Sache nur mit Blessuren wieder herauskommen. Wird der Bonus eines schönen Tages gestrichen, erleben die Mitarbeiter dies als unfaire Bestrafung, weil sie sich inzwischen in ihrem Anspruchsverhalten an den neuen Zustand adaptiert haben. Wer in einer solchen Situation seine Leistung mindert, handelt letztlich nur konsequent.
- Nach innen und außen signalisiert der Arbeitgeber, dass seine Arbeitsbedingungen eine solch unerträgliche Zumutung darstellen, dass man die Mitarbeiter bereits für die bloße Anwesenheit belohnen muss. Dies ist nicht zuletzt auch in Zeiten des Fachkräftemangels eine ebenso bemerkenswerte wie mutige Botschaft.
Alles in allem spricht mittel- und langfristig nichts für Anwesenheitsboni, zumindest wenn man den Gedanken nicht aufgeben will, ein leistungsorientiertes Unternehmen zu sein. Das Prinzip „Quick and Dirty“ mag zwar in vielen Unternehmen zum Kern der Corporate Identity gehören, manchmal ist es aber besser, mit lieb gewonnenen Traditionen zu brechen.
Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.
Schauen Sie auch einmal in den Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" rein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, warum Manager scheitern oder warum die Aussagekraft von graphologischen Gutachten ein Mythos ist.