Es ist paradox, kommt mir aber immer wieder unter: der Ruf nach Verantwortung, den Führungskräfte genauso laut erheben wie Mitarbeitende. Allerdings in gegensätzlicher Form. Mitarbeitende fordern: "Wir wollen mehr Verantwortung bekommen!" Und Führungskräfte klagen gerne: "Warum übernimmt hier keiner mal Verantwortung?".
Ich glaube mittlerweile, dass die beiden Aussagen gar keinen Widerspruch darstellen. Vielmehr spiegeln sie drei unzureichend gelöste Probleme in unseren Unternehmen wider:
- Das Unvermögen, die Dinge, die man verantworten soll, mit dem, was man beeinflussen kann, übereinzubekommen.
- Das Eingeständnis, dass es hier nie zur perfekten Deckung kommt, sondern es immer eine Kalibrierung in Spannungsfeldern braucht.
- Die Neigung von Vorgesetzten, den Appell zur Verantwortungsübernahme in Leitbilder zu packen, statt dazu durch eigenes Handeln konkret zu ermutigen.
Denn machen wir uns nichts vor: Dass der Ruf nach "mehr Verantwortung" bei Führungskräften wie bei Mitarbeitenden mehr und mehr ertönt, haben sich die Unternehmen auch selbst zuzuschreiben. Sie predigen Eigeninitiative in Firmenveranstaltungen, schreiben Verantwortungsübernahme für alle und jedes in ihre Leitbilder und ermutigen dazu, groß zu denken und auch mal etwas zu wagen ("taking smart risks"). Sie befeuern damit Wünsche und Vorstellungen, die in New-Work-Zeiten ohnehin viele haben.
Problem 1: Man muss beeinflussen können, was man verantworten soll
Allerdings schlägt hier bereits Problem 1 zu: Unternehmen schaffen oft nicht die nötigen Voraussetzungen, dass jede und jeder zu jeder Zeit Verantwortung übernehmen kann. Um Verantwortung für sein Tun übernehmen zu können, muss man streng genommen frei entscheiden können, was man tut. Und genau an dieser Freiheit werden Mitarbeitende messen, ob sie für ihre Handlungen Verantwortung übernehmen. Wer angewiesen wird, etwas zu tun, oder stur einer Leitlinie, einem Regelprozess oder einer betrieblichen Übung folgen soll, wird die Verantwortung dafür eher nicht bei sich sehen.
Mehr Entscheidungs- und Gestaltungsfreiraum einzuräumen, ist daher das Gebot für Führungskräfte. Die neue Freiheit anzunehmen und bereit zu sein, auch harte Konsequenzen zu tragen, wenn eigenverantwortliche Aktivitäten schiefgehen oder nicht einlösen, wozu sie gedacht waren, ist die Forderung an Mitarbeitende.
Problem 2: Es gilt, drei Gegensätze auszubalancieren
Hier aber kommt Problem 2 ins Spiel. Dieses hat Ariane Reinhart in einem Beitrag auf dem Business-Netzwerk Linkedin gut auf den Punkt gebracht. Die Personalvorständin von Continental schreibt dort: "Unsere Mitarbeitenden treffen jeden Tag Entscheidungen und übernehmen dafür Verantwortung. Da wir alle wissen, dass Risiken eingeht, wer Entscheidungen trifft, wollen wir unsere Kolleginnen und Kollegen dabei unterstützen."
Denn so schön eindeutig, wie sich alle Beteiligten das mit dem Zusammenspiel aus Gestaltungsfreiraum und Eigenverantwortung wünschen, ist es leider nicht. Es geht um das Ausbalancieren von Spannungsfeldern. Bei Continental verstehen sie darunter, den Ausgleich zu finden zwischen
- Selbstbestimmung und Vorgabentreue ("autonomy and alignment")
- persönlicher und geteilter Verantwortung ("indivdual and shared accountability")
- Wagemut und Sicherheit ("courage and safety").
Denn selbst, wenn Mitarbeitende wie Führungskräfte Wagnisbereitschaft, Kreativität und Eigeninitiative über alles stellen, kommen Unternehmen dennoch nicht umhin, Vorgaben zu machen. Sie lenken mit strategischen Leitplanken, durch Compliance-Regeln und Verhaltensvorschriften den Gestaltungsdrang der Mitarbeitenden in für sich geordnete Bahnen. Das ist richtig und kann fast gar nicht anders sein (wird aber leider oft übertrieben).
Weiterhin gilt: Selbst wenn Mitarbeitende von ihren Vorgesetzten Verantwortung übertragen bekommen und diese gerne annehmen, können Chefinnen und Chefs sich aufgrund ihrer Stellung im Unternehmen nie ganz von der Verantwortung lossagen für das, was in ihrem Bereich geschieht. In klassisch hierarchischen Organisationen weckt allein der Versuch, als Führungskraft Verantwortung zu delegieren, schon Zweifel: "Da stiehlt sich eine wohl aus ihrer Verantwortung?", "Da macht sich einer aber einen schlanken Fuß!", "Werden nicht eigentlich Sie dafür bezahlt?" …
Zu guter Letzt müssen Risiken auf allen Seiten gemanagt werden. Allein der Mut, neue Wege zu gehen, Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, genügt nicht. Er muss mit der größtmöglichen Sicherheit einhergehen, die daraus entstehenden, möglicherweise auch negativen Konsequenzen tragen zu können. Und zwar für den Mitarbeitenden, die Chefin und das Unternehmen.
Continental jedenfalls scheint sich dieser Herausforderungen sehr bewusst und tut viel, um mit diesen Spannungsfeldern umzugehen. Der Konzern hat dafür ein eigenes Programm mit dem Titel "Living Ownership" (auf Deutsch etwa "gelebte Verantwortungsübernahme") ins Leben gerufen. Insgesamt 900 "Ownership-Champions" halten als geschulte Multiplikatoren weltweit Workshops und Veranstaltungen zum Thema ab.
Problem 3: Es braucht den Stupser, der den Stein ins Rollen bringt
Hat man die Probleme 1 und 2 im Griff, gilt es aber noch Problem 3 zu lösen: Damit Mitarbeitende wirklich mehr Verantwortung übernehmen, braucht es häufig noch den Stupser, der den Stein ins Rollen bringt. Der muss in klassischen Organisationen von denen kommen, bei denen Entscheidungsbefugnis und Verantwortung über Jahre hin geparkt waren: den Vorgesetzten.
Einen originellen Weg hat hier Oliver Maassen, Arbeitsdirektor beim Maschinenbau-Konzern Trumpf, gefunden. Er rief den "entscheidungsfreien Monat" aus. Damit verband er die Ansage, dass er vier Wochen nichts entscheide, aber für die Entscheidungsfindung aller anderen in seinem Bereich zur Verfügung stehe. Eine Spielregel und praktische Übung, die mehr ins Rollen bringt als die eleganteste Formulierung in jedem Führungsleitbild.
Randolf Jessl ist Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen und Organisationen, die etwas bewegen und in Führung gehen wollen.