Was Teams von Polarforschern lernen können
Neun Personen, 270 Tage, 13.000 Kilometer von Deutschland entfernt. An 63 Tagen herrscht Polarnacht, mit Temperaturen bis zu minus 50 Grad. Die Teams der deutschen Antarktisforschungsstation Neumayer III arbeiten viele Monate isoliert unter extremen Bedingungen. Der antarktische Winter lässt direkte Eingriffe von außen nicht zu. Also müssen die Teams unter allen Umständen funktionieren – sonst droht Gefahr. In diesem August beginnen die Vorbereitungen zur 41. Überwinterung. Ein Arzt, drei Techniker, ein Koch und vier Wissenschaftler bilden das jährlich neu zusammengestellte Überwinterungsteam. Die Teammitglieder beiderlei Geschlechts haben meist sehr unterschiedliche Berufserfahrung und befinden sich in unterschiedlichen Lebensphasen, teilweise gehen sie direkt vom Studium in die Antarktis. Konstruktiv mit Diversität umzugehen, ist für eine erfolgreiche Zusammenarbeit essenziell.
Auf der Neumayer-Station III betreibt das Alfred-Wegener-Institut (AWI) Langzeit-Forschung. Phasen erhöhter Arbeitsbelastung für die Forscher wechseln sich mit Routine und Eintönigkeit ab. Die Observatorien außerhalb der Station werden auch bei extremen Wetter regelmäßig besucht. Verlässt ein Teammitglied die Station, gelten strikte Regeln. Diese einzuhalten, ist ein Maßstab für die Qualität der Zusammenarbeit. Externe Coaches begleiten die dreimonatige Vorbereitungszeit der Crew. Sie beginnt mit einem Aufenthalt auf einem Gletscher in den Alpen. Es folgen die wissenschaftlichen und technischen Ausbildungen, Teambildungsmaßnahmen und Schulungen in Konflikt- und Krisenmanagement. Der Stationsleiter und der leitende Ingenieur werden für ihre Führungsrolle qualifiziert.
Vier Aspekte sind für die dauerhafte Leistungsfähigkeit der Teams wesentlich: Erwartungsmanagement, kollaborative Teamführung, Strukturen und Regeln sowie Rituale.
Erwartungsmanagement mit kontinuierlichem Monitoring
Die Erwartungsklärung ist die effektivste Form der Konfliktprävention und hilft, Enttäuschungen aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen und unerfüllter Bedürfnisse zu vermeiden. Gerade in sehr heterogenen Teams sind das Offenlegen und der Ausgleich unterschiedlicher Einstellungen essenziell. So entsteht ein gemeinsames Bild über das Leben und die Zusammenarbeit auf der Station. Das Team klärt, wie das gemeinsame Handeln im rauen Alltag am Polarkreis aussehen soll. So lernen sich alle besser kennen und entwickeln Vertrauen zueinander. Damit dieses im Alltag nicht verloren geht, muss es ständig erneuert werden. Erwartungen sind immer vorhanden und wirksam, verändern sich aber auch laufend. Ein kontinuierliches Monitoring in regelmäßigen Teamreviews ist deshalb unabdingbar.
Die Teams wünschen sich nicht nur die Aufgaben zu erfüllen, sondern auch Gemeinsamkeit und "gute Erfahrungen" während der Überwinterung. Alle sind verantwortlich, die notwendigen Rahmenbedingungen für eine unterstützende Teamkultur zu schaffen. So wird die Qualität des Stationsbetriebes dauerhaft gesichert.
Kollaborative Teamführung: offener Umgang als Grundlage
Die Stationsleitung hat keine disziplinarischen Führungsinstrumente, sie kann, allein schon aufgrund der äußeren Bedingungen, niemanden entlassen oder nach Hause schicken. Somit verändern sich die Parameter. Denn wer gewohnt ist, auf disziplinarische Führung zu bauen, kann seine Führungsrolle verlieren. Durch den Vertrauensverlust entstehen dann schnell informelle Führungsstrukturen.
Bei ihren Entscheidungen ist die Führungskraft in vielen Bereichen des Stationsbetriebes auf die Expertise der hoch spezialisierten Teammitglieder angewiesen. Will sie unter diesen Voraussetzungen erfolgreich agieren, braucht sie ein modernes Rollenverständnis von Führung. Als Vorbild setzt die Führungskraft Maßstäbe bei der Sicherheit ebenso wie bei der Übernahme unangenehmer Aufgaben. Führungsprivilegien wären hier fehl am Platz. Anfangs erfordert eine solche Führungsrolle mehr Präsenz. Verstärkte Koordination und strukturbildende Maßnahmen schaffen Orientierung. Wächst die Fähigkeit des Teams, sich selbst zu organisieren, wird die Führung zunehmend kollaborativer. Die Führungskraft moderiert nun stärker Entscheidungsprozesse, anstatt die Entscheidungen selbst zu treffen. Sie schafft Räume für transparente Kommunikation innerhalb des Teams. Das betrifft den formellen Austausch zu den Aufgaben des Teams ebenso wie die Reflexion des Zusammenlebens. Der offene Umgang miteinander im begleiteten Teambuilding während der Vorbereitung, schafft die Grundlage für ein stabiles Vertrauensverhältnis und ermöglicht ein systemisches Verständnis zum Umgang mit Konflikten. Die Teammitglieder lernen, typische Konfliktmuster bei sich selbst zu erkennen und zu durchbrechen.
Die Führungskraft sollte aber auch Tendenzen zu übersteigertem Gruppendenken erkennen, etwa wenn Konflikte innerhalb des Teams übergangen oder kleingeredet werden. Ungelöste Konflikte zerstören das Vertrauen im Team, die Kommunikation reduziert sich auf ein Minimum. Nach außen hin wird allerdings immer noch so getan, als wäre alles in Ordnung. Die Atmosphäre kühlt sich ab, die Zusammenarbeit leidet extrem. In Einzelfällen kann es auch zu kritischen Eskalationen kommen. Hier muss die Führungskraft frühzeitig eingreifen und gegensteuern.
Strukturen und Regeln schaffen Ordnung, Routine und Berechenbarkeit
Neben der allgemeinen Stationsordnung, die auch Sicherheitsregeln beinhaltet, braucht es spezifische Regeln und Strukturen für das Team. In der Vorbereitung werden diese gemeinsam mit dem Coach erarbeitet. Das Team behält die Einhaltung der Regeln im Blick und entwickelt sie weiter. Strukturen und Regeln schaffen Ordnung, Routine und Berechenbarkeit für die Zusammenarbeit und das Zusammenleben in der Station. Grundlage für die Zeitstruktur des Teams sind regelmäßige Teammeetings mit unterschiedlichen Schwerpunkten:
- Inhaltliche Briefings,
- Austausch über Aktivitäten,
- Klärung notwendiger gegenseitiger Unterstützung,
- Organisation von Gemeinschaftsaufgaben.
Zu den Gemeinschaftsaufgaben gehört beispielsweise, die Station ordentlich und sauber zu halten. Besonders unbeliebt bei der Crew: das "Kloputzen". Weil es jedoch unerlässlich ist, hat sich das Team einen neuen Rahmen für Toilettenreinigung gesetzt und sie zum Event umdefiniert. Darüber hinaus haben die Bewohner der Neumayer III sich weitere Regeln gesetzt und diese in einer Teamcharta niedergeschrieben. Besonders typisch sind die folgenden:
- Respektvoll miteinander umgehen,
- Rücksicht nehmen,
- Privatsphäre beachten,
- Konflikte zeitnah ansprechen,
- Hilfe anbieten und Hilfe annehmen.
Analog zur Erwartungsklärung entwickelt das Team auch für diese Regeln konkrete gemeinsame Vorstellungen für die Umsetzung.
Rituale fördern die Zusammengehörigkeit
Rituale dienen der Strukturierung und bieten allen die Chance, aus dem Alltag herausragende Ereignisse zu gestalten und so die Gemeinsamkeit, das Kohärenzgefühl, zu stärken. Wichtigstes Ritual sind die täglichen gemeinsamen Mahlzeiten. In diesem informellen Rahmen werden fachliche Themen ebenso diskutiert wie private Anliegen und Erfahrungen. Regelmäßige Sicherheitsübungen stabilisieren die in der Vorbereitungszeit eingeübten Fähigkeiten. Meilensteine wie die Übernahme der Station, die Wintersonnenwende, der erste Sonnenaufgang nach der Polarnacht, die Ankunft des ersten Fliegers mit Frischgemüse am Ende der Überwinterung oder ähnliche Ereignisse sind willkommene Anlässe für gemeinsame Feiern. Gesellschaftlichen Ereignisse, beispielsweise überraschende Aktivitäten, Feste, besondere Aktionen im Austausch mit anderen Antarktisstationen wie Theaterspielen, Filme drehen, Kochwettbewerbe oder sportliche Aktivitäten fördern die Zusammengehörigkeit.
Übertragbarkeit auf die Zusammenarbeit in Unternehmen
Das antarktische Umfeld ist unberechenbar und komplex. Beides gilt, alle Besonderheiten einer Polarstation einmal ausgeklammert, auch für die heutige Unternehmenswelt. Und so lassen sich Handlungsempfehlunen ableiten, die auch Teams im Büro oder Homeoffice weiterbringen können.
- Die Teamführung gibt ein positives Beispiel. Sie verzichtet auf Führungsprivilegien und geht besonders bei unangenehmen Aufgaben voran.
- Mit wachsender Qualifikation und Autonomie des Teams bezieht die Führungskraft das Team stärker in Entscheidungsprozesse ein.
- Es gibt deutlich weniger Reibungen und Konflikte, wenn Erwartungen und Strukturen mit professioneller externer Unterstützung geklärt werden.
- Je bildhafter und konkreter die Ergebnisse der Erwartungsklärung sind, desto leichter werden sie umgesetzt.
- Verbindende Rituale und selbst erarbeitete Regeln stärken die Zusammengehörigkeit im Team.
Eine Chance für die Personalarbeit in Unternehmen liegt darin, den Rahmen für die Selbstorganisation von Teams zu schaffen. Im Ergebnis führt dies zu zufriedeneren, selbstbewussteren, engagierteren und leistungsfähigeren Teams.
Dieser Beitrag erschien in Personalmagazin 8/2020. Lesen Sie die gesamte Ausgabe auch in der Personalmagazin-App.
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