Gehen wir davon aus, dass es von Geburt an bestimmte Talente, besser Talentleitmotive gibt. Die Lebensaufgabe bestünde darin, aus diesen wunderbaren Anlagen nach und nach Stärken zu machen und damit im Idealfall anderen Menschen zu dienen. Was für ein einzigartiger Lebenssinn! Der Grund, warum wir geboren wurden. Doch woran erkennen wir unsere Talentleitmotive? Sie lenken unsere Aufmerksamkeit, unsere Wahrnehmung. Das, was uns geistig beschäftigt. Ganz natürlich, ohne Anstrengung, tief unbewusst und ohne überzogenen Willen. Das kommt erst später, so als würde ein Schalter umgelegt, der ein Licht angehen lässt. Als gäbe es da eine Stimme, welche ruft: "Pass auf! Sieh hin! Dahin geht deine Reise!"
Dann, im Zuge der Sozialisierung, wird diese Stimme immer leiser. Die äußeren Stimmen übertönen diese wunderbare Leichtigkeit. Die soziale Erwünschtheit schlägt zu. "Wenn du dich so verhältst, wenn du das machst, jenes denkst, dieses für gut oder jenes für schlecht erachtest, dann bist du richtig – ein guter Mensch und gehörst zu uns. Und wenn nicht? Dann eben nicht!" Also strengen wir uns an, um zu gefallen: "Mache ich es so richtig?"
Bis zur Unkenntlichkeit verbogen
Immer mehr bemühen wir uns, fremden Vorstellungen gerecht zu werden, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erlangen. So erhoffen wir uns Erfüllung und Glück. Erst der Schulabschluss, dann eine Ausbildung, danach ein Traumpartner, um Traumkinder zu bekommen – und natürlich der Traumjob. In Afrika den Hunger besiegen, das Klima retten oder einfach ein Unternehmen gründen? Auf jeden Fall die Welt zu einem besseren Ort machen. Vielleicht werden wir erfolgreich, sogar maximal. Doch trotz aller Anstrengung bleibt eine tiefe innere Erfüllung aus. Innere Leere und Frust fragen uns: "War‘s das jetzt? Das soll schon alles gewesen sein?"
Doch statt diesem Weckruf zu folgen, ergeben wir uns unserem Image. Dieses stellt sich stets in den Weg, wenn die Frage nach dem wahren Lebenssinn anklopft. Das Image liebt den Schein, das Vorgaukeln der heilen Welt. Posts werden produziert, um Likes zu sammeln. Freunde und Follower sind selten real.
Wenn die Zweifel am Image kratzen
Und so dressiert uns das Image dazu, nur glücklich zu tun, um vor anderen gut dazustehen. Innerlich aber lässt uns der Zweifel leiden. Die Sklaverei sozialer Erwünschtheit und des Images höhlen uns aus. Der Schmerz nimmt zu, und wir wollen der Sache auf den Grund gehen. Wir betreiben Persönlichkeitsentwicklung, verschlingen Bücher, versuchen es mit Seminaren oder einer Therapie.
Mit etwas Glück hören wir die Stimme unserer Kindertage wieder. Sie wird klarer, lauter und mutiger. Es ist der Lebenssinn, der nach Erfüllung schreit. Die Aufgabe, die wir in diesem Leben haben. Die Anlage, die seit Geburt nach Entwicklung und Wirkung in dieser Welt strebt. Und das ist keine Raketenwissenschaft, die nur Genies verstehen. Es geht um ganz natürliche Talente, wie Geschicklichkeit mit Händen oder kreatives Problemlösen.
Wir müssen uns selbst kennen, um dem inneren Ruf zu folgen
So kennt etwa der Gallup Strengths-Finder 34 Wege, die beschreiben, was wir von Natur aus am besten können: Anlagen wie analytische Intelligenz, Anpassungsfähigkeit, Geltungsbedürfnis, Integrationsstreben, Kontaktfreudigkeit oder Organisationstalent. Doch ob hier oder bei anderer Persönlichkeitsdiagnostik: Es geht nie darum, wie gut solch ein Werkzeug ist, sondern wie wir es nutzen, damit aus Kennen Können wird.
Folgen wir unserem Ruf, erfahren wir Erfüllung. Andernfalls leiden wir. Dem Ruf zu folgen, ist unser Auftrag. Er ist uns am Anfang des Lebens nicht bewusst. Vielleicht wird er das nie. Doch vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem uns die Augen aufgehen. Ein größeres Geschenk können wir uns selbst kaum machen!
Über den Kolumnisten: Boris Grundl ist Führungskräftetrainer und gilt bei Managern und Managerinnen sowie Medien als "Der Menschenentwickler" (Süddeutsche Zeitung). Er ist Inhaber des Grundl Leadership Instituts, das Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Dafür erforscht, testet und lehrt das Institut hochwertige, praxisrelevante Unterscheidungen - als Voraussetzung für Wahrnehmung und Erkenntnis.