Mit Hierarchien arbeiten statt dagegen
Entgegen allen Versuchen, Hierarchien zu verflachen oder gar abzuschaffen, halten sie sich als ordnendes Prinzip in Organisationen. Offensichtlich erfüllen sie eine wichtige Funktion. Egal ob von oben verordnet oder in Selbstorganisation informell entstanden: Eine Hierarchie scheint unverzichtbar zu sein, um zielgerichtete Aktivitäten gemeinsam mit anderen durchzuführen. Sie erfüllt nicht nur ein organisationales, sondern auch ein menschliches Bedürfnis nach Ordnung und Orientierung sowie Zuordnung von Verantwortung.
Da sich Hierarchien erkennbar immer dann bilden, wenn Menschen gemeinsam Ziele verfolgen, lohnt sich die Frage, wie wir mit statt gegen Hierarchien arbeiten können. Denn als Führungskräfte- und Organisations-Coaches erleben wir oft, dass in vielen größeren Organisationen die Zusammenarbeit über die Hierarchieebenen hinweg nicht oder nur unzureichend funktioniert, insbesondere zwischen den oberen Ebenen.
Hierarchie und die Kritik daran
Zum Beispiel ist in den mittleren Führungskreisen häufig von Lähmung die Rede, von Unverständnis der übergeordneten Ebene für den Alltag in der eigenen Organisation und einem einseitigen Fokus auf monetäre Ergebnisse. Typisch sind auch Beschwerden über die Kommunikation oder deren Abwesenheit aus dem Topmanagement, fehlendes Feedback oder mangelnde Einbeziehung in Entscheidungsprozesse oder langes Warten auf konkrete Entscheidungen. Im Topmanagement wird hingegen oft Unzufriedenheit über fehlende Eigenverantwortung oder Initiative aus der nachgeordneten Ebene geäußert. Dort fehle der strategische Blick, Initiativen und Informationen würden zu oft versanden, die Kommunikation nicht angemessen in die Bereiche und Teams weitergetragen. Nicht selten kommt es sogar zu erheblichen Brüchen zwischen Hierarchieebenen aufgrund von mangelndem Vertrauen in die Fähigkeiten der jeweils anderen Seite.
Was bedeutet Hierarchie? |
Üblicherweise versteht man unter Hierarchie eine pyramidenförmige Rangordnung. Der Ursprung des Wortes ist griechisch und setzt sich zusammen aus hieros (heilig) und arche (Führung). Hierarchie hatte somit in der Vergangenheit eine direkte Verbindung zur Religion und wurde dort auch als Erstes zur Strukturierung der Rangfolge in religiösen Institutionen genutzt. Inzwischen verwenden wir Hierarchien in allen möglichen Organisationen, nicht nur menschlichen – die Klassifizierungen in der Botanik oder Geologie folgen einem hierarchischen Prinzip, selbst in der Softwareentwicklung müssen Rangordnungen geklärt werden: Welches Prinzip gilt vor einem anderen? Letztlich hat eine Hierarchie immer etwas mit Über- und Unterordnung zu tun. Sie ist ein systemisches Prinzip, das in Kraft tritt, sobald zwei Elemente zueinander in Beziehung treten. Das übergeordnete Prinzip strukturiert die Beziehung, gibt ihr Sinn und Halt. |
Mind the Gap: Lücken zwischen Hierarchiebenen bewusst beachten
Es liegt in der Natur der Sache, dass Grenzen überbrückt werden müssen, wo Hierarchieebenen aufeinander treffen. Hier teilt man Entscheidungskompetenzen und Verantwortlichkeiten auf, hier werden Über- und Unterordnungsverhältnisse geklärt und abgegrenzt. Die Abgrenzungen sorgen für Klarheit und lassen gleichzeitig Lücken zwischen den Hierarchieebenen entstehen. Denn auf jeder Seite der Grenze passieren Dinge, die oft nicht sofort auf der anderen Seite erkennbar oder verständlich sind. In diesem Artikel geht es um Möglichkeiten, solche Brüche zu heilen oder gar nicht erst entstehen zu lassen, damit die positiven und ordnenden Aspekte von Hierarchien mehr Wirkung entfalten können. Dafür ist es wichtig, den Fokus auf die strukturellen Grenzen zwischen den Hierarchieebenen zu legen. Das macht die Lücken in Bezug auf Erwartungen, Informationsflüsse und Prozesse sichtbar, die an diesen Grenzen entstehen. Eine der wesentlichen Lücken an dieser Grenze entsteht durch eine asymmetrische Informations- und Wissensverteilung. Diese kann – je nach Thema – in beide Richtungen gehen, nicht immer hat die übergeordnete Ebene alle Informationen aus der untergeordneten Ebene.
Lücken ergeben sich außerdem durch räumliche Trennungen und zeitliche Verschiebungen in der Kommunikation. Wenn es um wesentliche Entscheidungen geht, wird die übergeordnete Ebene häufig zuerst entscheiden und dann kommunizieren – und sowohl der Entscheidungs- als auch der Kommunikationsprozess kann sich über einen längeren Zeitraum hinziehen, während dem die untergeordnete Ebene in einer Informationsasymmetrie nicht oder nur unzureichend informiert ist. Es ist unschwer erkennbar, dass diese strukturelle Distanz zwischen den Ebenen sehr leicht zu Missverständnissen bis hin zu Misstrauen führen kann; schlimmstenfalls sieht jede Ebene die andere als eine Art "Black Box", wo Dinge passieren, in die man keinen Einblick hat – eine Einladung zu Spekulationen und zur Gerüchtebildung.
Hinzu kommt, dass in Hierarchien aufgrund der Asymmetrie der Entscheidungskompetenzen und Informationsbasis eine Tendenz entsteht, sich auf der nachgeordneten Ebene individuell nach oben zu orientieren. Jede Führungskraft hat einen natürlichen Impuls, als Erstes bei ihrer Chefin gut dazustehen, um frühzeitig an Informationen zu kommen, um die eigene Position oder die ihres Teams im System zu sichern. Durch dieses "Upward Management" kann der Eindruck entstehen, dass die Lücke zwischen den Ebenen gut überbrückt sei. Tatsächlich führt dies jedoch zur Verstärkung von Silos in Organisationen und zu mehr Lücken, weil Informationen nur horizontal in das jeweilige Silo fließen und Informationsstrukturen nicht miteinander vernetzt werden. Eine mangelnde Zusammenarbeit und Integration zwischen Bereichen ist häufig das direkte Ergebnis eines individualisierten Managements innerhalb der obersten Hierarchieebenen – oft schon in der Geschäftsführung.
Abhängigkeiten und "Management by Announcement"
Es sind diese Asymmetrien und Lücken, die häufig den oben genannten Beschwerden zugrunde liegen. Denn die Machtverhältnisse – Macht im Sinne von Entscheidungskompetenzen und Wissensvorsprüngen – erzeugen Abhängigkeiten bei den nachgelagerten Ebenen. Dadurch entsteht das zwischen Hierarchieebenen häufig zu beobachtende Kommunikationsmuster der Verkündigung beziehungsweise des Wartens auf eben diese Verkündigung. So wurde beispielsweise in einem großen Produktionsunternehmen eine Entscheidung über eine vollständig neue Arbeitsweise verkündet ohne Hinweise für die nachgeordnete Ebene, wie diese Entscheidung zu kommunizieren oder in den jeweiligen Bereichen effektiv umgesetzt werden sollte; was wiederum bei vielen Führungskräften zum Warten auf weitere Informationen führte, bevor man aktiv wurde.
Sehr viele Führungskräfteveranstaltungen folgen mit Bühnen, Hochglanzfolien und Vorträgen diesem Muster des "Management by Announcement". Kein Wunder, dass die Pausen und gemeinsamen Abendessen oft als die wertvollste Zeit empfunden werden, weil dann tatsächlich Gespräche zustande kommen, die in den formalen Sessions nicht stattfinden.
Ein "Management by Announcement" beruht auf der Annahme, dass die übergeordnete Hierarchieebene am besten weiß, was die nachgeordnete Ebene wissen und lernen sollte. Die Lücke wird somit durch eine Einbahnstraße überbrückt, was eine etwaige Passivität der nachgeordneten Ebenen verstärkt und Frustration auf allen Seiten erhöht. Eine andere weitverbreitete Annahme ist, dass durch eine Mitteilung sprichwörtlich bereits alles getan ist ("Es braucht mal eine klare Ansage!"). Aber in hierarchieübergreifender Kommunikation und insbesondere in Team- und Gruppensettings ist zu beachten: Gesagt ist noch lange nicht getan.
Heal the Gap: Lücken und Brüche überwinden
Die nachhaltige Überbrückung und Heilung von Lücken oder gar Brüchen zwischen Hierarchieebenen erfordert inhaltliche und strukturelle Verbindungsräume sowohl innerhalb als auch zwischen den Ebenen. Erst dann lassen sich offene Kommunikation und psychologische Sicherheit in Führungsgremien ermöglichen. Vier Aspekte solcher Verbindungen werden hier kurz vorgestellt, außerdem erläutern die Beispiele weitere Möglichkeiten ( siehe hier).
1. Kooperation in der Hierarchieebene stärken
Eine gute Zusammenarbeit der Mitglieder einer Hierarchieebene untereinander ist eine wichtige Voraussetzung für eine effektive Zusammenarbeit der nachgeordneten Ebenen. Deswegen ist die Zusammenarbeit im Sinne eines echten Teams auf jeder Hierarchieebene so wirkungsvoll – angefangen mit dem Vorstand oder der Geschäftsführung. Oft ist allein schon der Gedanke, zum Beispiel als Gruppe von Vorständen oder Bereichsleitungen ein Team zu sein, sehr ungewohnt. Obwohl bekanntlich alle nachgelagerten Mitarbeitenden und Teams darunter leiden, wenn die eigene Chefin mit dem Chef eines anderen Bereichs "nicht kann". Oder wenn in Führungsgremien kein echter Austausch besteht, sondern in den Sitzungen nur Statusberichte geteilt werden, die den eigenen Bereich möglichst gut dastehen lassen wollen.
Tatsächlich ist die Verbindung der Mitglieder einer Hierarchieebene untereinander der beste und effektivste Weg, um die Lücken zwischen den Ebenen als Ganzes sichtbarer zu machen und Wege zur Überbrückung zu finden. Das heißt, als Erstes müssen die Lücken zwischen den Einzelnen geschlossen werden, indem sie sich einer bestimmten Hierarchieebene zugehörig fühlen und damit für diese Ebene insgesamt auch eine gemeinsame Verantwortung übernehmen.
2. Einen gemeinsamen Führungsauftrag erarbeiten und leben
Der Aufbau eines Gemeinschaftsgefühls kann maßgeblich durch die Entwicklung eines gemeinsamen Rollenverständnisses und spezifischen Führungsauftrags entstehen. Wie verbindend (im Unterschied zu verbindlich) wirkt die Unternehmensstrategie für Vorstand und Geschäftsführung? Inwiefern gibt es ein geteiltes Bild zur Führungsverantwortung und Umsetzung dieser Strategie? Wie integriert ist die Zusammenarbeit, inwiefern spiegeln die Sitzungen eine positive Kultur wider, die vorbildhaft für die nachgeordneten Ebenen ist?
Welche Rolle spielt als Nächstes die Ebene der Bereichsleiter für die Entwicklung und Umsetzung der Unternehmensstrategie? Welche spezifische Führungsaufgabe hat diese Ebene im Rahmen des Gesamtauftrags und der Werte der Organisation? Und "Mind the Gap": Welche Lücken müssen in dieser Ebene in beide Richtungen besonders beachtet werden, damit das Zusammenspiel mit den anderen Ebenen optimal funktioniert?
Eine solche Klärung in einem über mehrere Ebenen verzahnten Prozess stellt die Gemeinsamkeiten der Menschen in der jeweiligen Hierarchieebene in den Vordergrund und sorgt für ein verbindendes Element. Eine regelmäßige, mindestens jährliche Retrospektive und daraus abgeleitete Aktionen für das jeweilige Führungsteam sind allerdings unerlässlich, damit dieser Auftrag die erwünschte Wirkung entfalten kann.
3. Inhaltliche und verbindende Ziele in den Vordergrund stellen
Durch einen gemeinsamen (Führungs-)Auftrag im oben beschriebenen Sinne verschiebt sich die Hierarchie von Personen und Rollen stärker auf Inhalte. Das übergeordnete Element ist nicht ein CEO oder sonstiger Chef, sondern eine gemeinsam erarbeitete Idee und gemeinsam getragene Werte. Im weitesten Sinne ist diese Idee die Vision oder der Grundauftrag (Purpose) eines Unternehmens, der alles nachgeordnet wird.
Wenn wir Hierarchie in Organisationen primär als inhaltliche Ebene denken, entsteht Raum für andere Gespräche. Es gibt einen Aufhänger (die übergeordnete Ebene) jenseits persönlicher Befindlichkeiten. Letztere verschwinden nicht unbedingt dadurch, aber durch die Orientierung am übergeordneten inhaltlichen Ziel werden sie in einen neuen Rahmen gestellt. Diesen Rahmen für die Organisation zu halten und immer wieder neu mit allen Ebenen und Bereichen der Organisation zu verhandeln, ist eine primäre Aufgabe guter Führung auf jeder Hierarchieebene. Passiert das nicht, entstehen die sattsam bekannten Lücken zwischen dem schönen Plakat an der Wand und dem tatsächlichen Alltag im Unternehmen.
4. "Gap Conversations": Lücken und Übergänge im Team besprechen
Während in vielen Fällen struktur- und hierarchieübergreifende Gespräche zwischen einzelnen Personen häufig und durchaus konstruktiv stattfinden, wird dem Gespräch zwischen ganzen Ebenen und Teams meistens nicht annähernd genug Zeit eingeräumt; oder sie werden an die informelle Kommunikation delegiert, die bei Abendveranstaltungen, in Pausen oder auf gemeinsamen Reisen stattfindet. Natürlich ist die informelle Kommunikation ein wesentlicher Teil jeder freudvollen Zusammenarbeit. Um jedoch positiv mit der Lücke zu arbeiten, sind systematische Gespräche in Teams durch nichts zu ersetzen.
Einstiegsfragen für Gap Conversations |
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Hierfür bewähren sich regelmäßige hierarchieübergreifende Führungskräfteveranstaltungen im kleinen oder größeren Rahmen, in denen mit unterschiedlichsten Formaten an der offenen Kommunikation untereinander gearbeitet werden kann. Mit der Zeit kann sich eine natürliche Verbindung und Fähigkeit ausbilden, die Lücken zwischen Einheiten und Ebenen selbstverständlich durch "Gap Conversations" (siehe oben) zu überwinden.
Wie ein Sicherheitscheck an der Bahnsteigkante können Führungskräfte und Teams sich fragen: Wo gibt es Lücken im Informationsfluss? Wo gibt es zeitliche Verzögerungen? Wo gibt es Brüche in strukturübergreifenden Prozessen? Wo scheitert die Zusammenarbeit an ungeklärten Strukturen oder Beziehungen? All das sind Situationen, die nach Gesprächen rufen, aus denen sich neue Ideen und konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation ergeben können. Regelmäßige "Gap Conversations" können ein systematischer Ansatz sein, um etwaige Lücken zu thematisieren und Wege zur Überbrückung zu finden.
Hierarchien und "Management by Conversation"
Hierarchien entstehen auf natürliche Weise da, wo Menschen miteinander arbeiten. Sie etablieren eine Ordnung und setzen dadurch auch Grenzen. An diesen Grenzen entstehen Lücken aller Art – zeitliche, räumliche und prozessuale. Da wir Hierarchien und Strukturen in Organisationen aus verschiedenen Gründen immer haben werden, gilt es, Wege zu finden, mit diesen Grenzen im positiven Sinne zu arbeiten. Der wichtigste Schritt ist die Beachtung der Lücken, die an solchen Grenzen naturgemäß entstehen, um sie bewusst zu überbrücken – "Mind the Gap".
Um von "Minding" zu "Healing" zu kommen, empfiehlt es sich, statt eines "Management by Announcement" ein "Management by Conversation" zu pflegen. Damit ist eine Kultur des offenen Austauschs und Dialogs in Führungsgremien gemeint, nämlich Gespräche in Gruppen und Teams aus Führungskräften. "Gap Conversations" oder die Entwicklung eines gemeinsamen Führungsauftrags sind gute Schritte um Vertrauen aufzubauen und eine solche Kultur zu entwickeln. Damit kann aus der Idee einer wertenden und eher starren Über- und Unterordnung die Idee der flexibleren Einordnung in eine Hierarchie werden, die primär den inhaltlichen Zielen einer Organisation dient.
Dieser Beitrag ist erschienen in personalmagazin neues lernen, Ausgabe 2/2024, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der App personalmagazin - neues lernen.
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