Der unterhaltsamste Recruiter 2019 steht fest
"Hinter Filtern versteckte, bedeutungslose Worthülsen." Das Anschreiben von Bewerbern als "Instagram für Prosa". Mit diesem Abgesang aufs Anschreiben zieht Nora Jarzynski, Head of Talent Acquisition bei Roche, ins Finale des diesjährigen Recruiter Slams in Stuttgart ein. Dafür bringt sie sogar einige leidenschaftliche Unterstützer mit: Bei ihrem Auftritt halten Besucher Schilder mit Buchstaben in die Luft: "G – O – N – O – R – A" steht da. Doch für den Titel reicht es nicht ganz, denn das Unterhaltungspotential und das Niveau der vorgetragenen Texte beim vierten Poetry Slam unter Recruitern hat sich gesteigert. "Die Texte werden von Slam zu Slam besser," erinnert sich ein Gast, der schon die vorherigen drei Veranstaltungen besucht hat.
Slammen über HR in der ausverkauften Halle
Insgesamt haben am Donnerstagabend, 14. November, 300 Besucher den Weg ins Wizemann gefunden, um den acht Poetry-Slammern und ihren Texten zu lauschen und am Ende einen von ihnen zum Unterhaltsamsten zu küren. "Manche Firmen kommen mit ganzen Teams. Zum Beispiel sind Abteilungen von Valeo, Mahle oder der Schwarz-Gruppe heute hier," erzählt Michael Witt, der die Veranstaltung zusammen mit Tobias Meinhold vom Kultureservoir organisiert. Das Event war schon zwei Wochen zuvor ausverkauft, deshalb überlege er, beim nächsten Slam im Frühjahr 2021 einen größeren Saal für bis zu 600 Gäste zu reservieren. "Das könnte neben der Messe eine der größten Szeneveranstaltungen Deutschlands werden." Ob das möglich wird, hängt wohl auch von den Sponsoren ab, denn diese finanzieren den Slam im Wesentlichen, erzählt Witt: "Mit den Eintrittsgeldern können wir nicht einmal die Halle bezahlen. Inzwischen legen viele Sponsoren Wert auf Lead-Generierung, aber das ist bei einem Unterhaltungsformat schwierig, da die Besucher aus einem anderen Antrieb kommen."
Mit dem Unterhaltungswert der vorgetragenen Texte ist Michael Witt mehr als zufrieden: "Das ist ja stets ein Risiko, weil wir die Texte vorher nicht kennen." Drei der acht Teilnehmer waren zum ersten Mal dabei, von diesen drei "Neulingen" schaffen es zwei auf Anhieb, einen "Alten Hasen“ im Zweikampf der Vorrunde zu besiegen und landen so im Finale. Auch hier gilt also: Konkurrenz belebt das Geschäft!
Recruiter Slam: Unterhaltung schlägt Information
Inhaltlich bringen die Textvorträge nichts wirklich Neues zu Tage. Aber die Slammer thematisieren viele Themen, die derzeit diskutiert oder gehyped werden. Dabei schaffen sie es, immer wieder Kritik aus der Recruiting-Praxis einfließen zu lassen, meist mit einer gehörigen Portion Ironie. Neben einer Abrechnung mit Automatisierungspotentialen lassen sie auch Plädoyers fürs Menschliche vernehmen: Beispielsweise im erotisch angehauchten Flirt zwischen Recruiterin und Top-Talent, der leider durch das Desinteresse der Fachabteilung – am Recruiting-Prozess, nicht am Kandidaten – ein jähes Ende findet. So erzählt es der Text, mit dem sich Anja Schöllhorn für das Finale qualifiziert.
Dass die inhaltliche Tiefe hinter dem Unterhaltungswert zurückstehen muss, ist für Michael Witt kein Problem: "Das ist eine Entertainment-Veranstaltung und meines Wissens die einzige dieser Art!" Mit diesem Anspruch hat es der Recruiter Slam immerhin geschafft, zu einem relevanten Branchentreff zu wachsen: Die Slammer und Besucher kommen bei weitem nicht nur aus Stuttgart: Witt schätzt, dass etwa 65 Prozent aus dem süddeutschen Raum kommen, aber auch aus Bremen, Wolfsburg oder Köln seien Menschen angereist. Damit ergibt sich immerhin ein informeller Austausch an der Bar.
Eine Marketing-Managerin als Recruiting-Slam-Gewinnerin
Isabel Hartmann vom Startup Studydrive tritt in diesem Jahr zum ersten Mal ans Mikrophon und gewinnt letztlich den Dichterwettstreit. In der Vorrunde erzählt sie von ihrem HR-Praktikum und wie eine Orange den Bewerberkontakt unterbricht. Ihr spritze dabei immer wieder Säure ins Gesicht, während sie eigentlich am Telefon Fragen zu der offenen Stelle beantworten solle. Das Fluchen führe am Ende dazu, dass der Kandidat erbost das Gespräch abbricht – und sie seitdem einen weiten Bogen um den Obstkorb mache. Im Finale erzählt sie davon, wie sie sich mit ihrem saarländischen Onkel und ihrer Tante über den Fachkräftemangel, die Motivation der jungen Generation und die Vier-Tage-Woche unterhält.
Hartmann selbst ist ziemlich überrascht über den Sieg: "Das ist das erste Mal, dass ich überhaupt einen Pokal in den Händen halte." Auch sie hat einen kleinen Fanclub mitgebracht: Drei Berliner Kollegen unterstützen sie mit ihrem Applaus, auch wenn das am Ende gar nicht nötig ist.
Dass Hartmann eigentlich gar keine Recruiterin ist, sondern im Marketing arbeitet, ist zwar ein Novum, fällt aber bei der Siegerehrung nicht mehr ins Gewicht. Denn am Ende zählt eben nur, wer den lautesten Applaus bekommt - und den hat Hartmann für ihre Texte verdient.
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