Es ging um zwei Fälle missglückter Vergangenheitsbewältigung:
- Die 89-jährige Ursula Haverbeck ist in der rechten Szene für ihre stramme nationalistische Gesinnung bekannt. Vehement leugnet sie immer wieder die massenhafte Tötung der jüdischen Bevölkerung im Holocaust und stand deswegen nun vor Gericht.
- Der zweite Fall betraf einen verurteilten Angeklagten, der auf einer Internetplattform behauptet hatte, die "SS" habe lediglich Freiwillige in die Lager geführt, die Überlebenden des Holocaust würden auf unwürdige Weise heute Geld mit Vorträgen über ihre Holocaust-Vergangenheit verdienen. Auch die Widerstandskämpfer und späteren Zeugen in den NS-Prozessen hätten in vielen Fällen Lügen verbreitet.
Haverbeck als „Stimme des Reiches“
In diversen Artikeln in der über das Internet vertriebenen Zeitschrift „Stimme des Reiches“ vertrat Haverbeck die Auffassung,
- dass sich die massenhafte Tötung Menschen jüdischen Glaubens unter der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht ereignet haben könne und insbesondere die Massenvergasungen in dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau nicht möglich gewesen seien.
- Sie untermauert diese Aussagen mit angeblichen wissenschaftlichen Argumenten und beruft sich hierbei auf vom „Institut für Zeitgeschichte“ veröffentlichte und dokumentierte Befehle von Lagerkommandanten, aus denen eindeutig hervorgehe, dass das Lager Auschwitz ein reines Arbeitslager gewesen sei.
- Es habe dazu gedient, arbeitsfähige Personen für die Rüstungsindustrie zu rekrutieren.
- Auschwitz als Symbol des Holocaust sei bereits seit Jahrzehnten historisch „in sich zusammengebrochen“.
Zentralrat der Juden soll sich für Lügen entschuldigen
In einem offenen Brief forderte sie eine Antwort auf die Frage, wo die 6 Millionen Juden denn nun vergast worden sein sollen. Mit dem Brief wandte sie sich unter anderem an die Mitglieder des Zentralrates der Juden in Deutschland. Dieser solle die gewaltige Übertreibung richtig stellen und die von der Auschwitz-Lüge Betroffenen um Vergebung und Gnade bitten. Von der Politik forderte sie die Einstellung jeglicher Reparationszahlungen an Israel.
Freiheitsstrafe ohne Bewährung für Haverbeck
Das LG verurteilte die Autorin in der Berufungsinstanz unter anderem wegen Volksverhetzung in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren. Das Gericht setzte die Strafe nicht zur Bewährung aus, da die Angeklagte renitent bei ihrer Auffassung bleibe und daher nicht davon auszugehen sei, dass die Angeklagte sich in Zukunft straffrei führen werde.
Haverbeck-Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen
Gegen das Urteil legte die Verurteilte Verfassungsbeschwerde ein, weil sie sich in ihrer Meinungsfreiheit verletzt sah. Für diese Einstellung hatten die höchsten deutschen Richter keinerlei Verständnis. Das BVerfG nahm die Beschwerde erst gar nicht zur Entscheidung an.
Das BVerfG (Beschluss v. 22.6. 2018, 1 BvR 673/18) stellte klar, dass es sich bei den Darlegungen der Beschwerdeführerin in den von den Gerichten beanstandeten Artikeln um Tatsachenbehauptungen handelt, die den historisch in vielfacher Hinsicht bewiesenen Geschehensabläufen diametral widersprächen.
- Als Bestandteil von Meinungsäußerungen könnten zwar auch Tatsachenbehauptungen unter den Schutz der Meinungsäußerung fallen, hier würden aber lediglich geschichtliche Tatsachen auf den Kopf gestellt, dies falle nicht unter den Begriff der freien Meinungsäußerung.
- Deshalb würden diese unrichtige Tatsachenbehauptungen auch nicht durch die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt.
- Ein Verstoß gegen die Verfassung durch die strafrechtliche Verurteilung sei daher in keiner Weise erkennbar.
Haverbecks Äußerungen stören den öffentlichen Frieden
Die Tatbestandsmerkmale der Billigung und Leugnung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gemäß § 130 Abs. 4 StGB indizierten im übrigen die von dieser Vorschrift ebenfalls geforderte Störung des öffentlichen Friedens.
- Die Überschreitung der Friedlichkeit liege darin, dass die Leugnung und das Bestreiten des allgemein bekannten, unter dem Nationalsozialismus verübten Völkermordes vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte nur so verstanden werden könne, dass damit diese Verbrechen legitimiert und gebilligt werden sollten.
- Die Äußerungen trügen damit unmittelbar die Gefahr in sich, die politische Auseinandersetzung ins Feindselige und Unfriedliche umkippen zu lassen.
Verharmlosung nationalsozialistischer Gewalt:
Anders urteilten die Verfassungsrichter hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde eines ebenfalls wegen Volksverhetzung verurteilten Angeklagten, der zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt worden war. Ihm war von der Strafrichtern vorgeworfen worden, den Nationalsozialismus und seine Taten in volksverhetzender Weise verharmlost zu haben.
„Netzradio Germania“ bestreitet historische Fakten
Gegenstand der Verurteilung war die vom Beschwerdeführer betriebene Internetpräsenz „Netzradio Germania“ sowie eine auf seinen YouTube-Account hochgeladen Audiodatei. Diese enthielt eine harsche Kritik an der vor einigen Jahren an unterschiedlichen Orten gezeigten Wehrmachtsausstellung. Die Angriffe richteten sich unter anderem auch gegen den Initiator der Ausstellung, den Zigarettenfabrikanten Jan Philipp Reemtsma.
„Will sich Reemtsma ein reines öffentliches Gewissen mit Lügen wegen seiner ererbten Zigaretten-Millionen, die aus Sucht, Elend, Krankheit und Tod von Tausenden Menschen zusammen gerafft wurden“,
erkaufen? In dem Text wurden den Initiatoren der Ausstellung Fälschungen, Manipulation, Volksverhetzung, Lügenpropaganda und Verfälschung der historischen Wahrheiten vorgeworfen.
BVerfG sieht keine Störung des öffentlichen Friedens
Das BVerfG hob die Verurteilung des Beschwerdeführers durch das LG Paderborn auf.
- Nach Auffassung des Senats verletzt die Verurteilung den Beschwerdeführer in seinem verfassungsrechtlich geschützten Recht auf freie Meinungsäußerung.
- Das LG habe die Voraussetzungen der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 3 StGB nicht hinreichend geprüft.
- Die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens sei ein selbstständiges Tatbestandsmerkmal, dessen Erfüllung mit tragfähigen Tatsachenfeststellungen unterlegt werden müsse.
Auch abstruse Meinungen genießen den Schutz der Verfassung
Nach den Feststellungen der Verfassungsrichter waren die bei „Radio Germania“ veröffentlichten Bemerkungen zwar als diffuse Tatsachenbehauptungen zu qualifizieren, diese seien aber mit ebenso diffusen Werturteilen vermischt worden.
- Die vielfachen Werturteile fielen jedoch in den grundgesetzlich geschützten Bereich der Meinungsfreiheit.
- Diesen Bewertungen seien zwar klare Verharmlosungstendenzen zu entnehmen,
- das Tatbestandsmerkmal der Verharmlosung allein reiche aber für die Erfüllung des Tatbestandes des § 130 Abs. 3 StGB nicht aus, erforderlich sei darüber hinaus die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens, die hier - anders als in § 130 Abs. 4 StGB – nicht indiziert werde.
Kein Anspruch der Öffentlichkeit auf Schutz vor beunruhigenden Meinungen
Die Verfassungsrichter stellten klar, dass nicht jede provokante Meinung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Die Vorschrift habe auch nicht den Zweck, die Öffentlichkeit vor beunruhigenden Meinung zu schützen, selbst nicht vor in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlichen Meinungen, die sich gegen die geltende Ordnung richten.
- Völlig diffuse Äußerungen seien nicht per se zur Störung der des öffentlichen Friedens geeignet, auch wenn sie zur Vergiftung des geistigen Klimas beitragen könnten.
- Auch eine anstößige und offenkundig falsche Geschichtsinterpretation begründe noch keine Strafbarkeit.
- Die Meinungsfreiheit schütze gerade auch solche Äußerungen, die von einem Großteil der Öffentlichkeit als anstößig oder provozierend und wissenschaftlich haltlos gewertet würden.
Auch solche für die demokratische Öffentlichkeit schwer erträgliche Meinungen dürften nicht durch strafrechtliche Verbote zurückgedrängt werden, vielmehr müssten sie im öffentlichen Disput ihre Gegenspieler finden.
Aüßerungen dürfen nicht in unfriedlichen Charakter umschlagen
Strafrechtlich dürfe die Meinungsfreiheit erst dann eingegrenzt werden, „wenn die Äußerungen in einen unfriedlichen Charakter umschlagen“.
- Diese Grenze sei erst dann überschritten, wenn unmittelbar oder mittelbar reale Wirkungen der Äußerungen zu befürchten
- seien und rechtswidrige Folgen ausgelöst werden können, etwa durch eindeutige Appelle zum Rechtsbruch
Das Vorliegen dieser Voraussetzungen sah das BVerfG hier als nicht hinreichend geklärt an, hob deswegen die strafrechtliche Verurteilung auf und verwies den Fall zur weiteren Entscheidung an das Instanzgericht zurück.
(BVerfG, Beschluss v. 22.6.2018, 1 BvR 2083/15).