Der Freikauf von Gefangenen ist in Deutschland eigentlich ein Relikt aus vergangenen DDR-Zeiten, in denen der deutsche Staat politische Gefangene und Mauerflüchtlinge aus DDR-Gefängnissen freikaufte. Nun taucht dieser totgeglaubte Brauch in ganz anderem Zusammenhang in Deutschland wieder auf.
Haftstrafe wegen Bagatelldelikten
Tausende Häftlinge verbringen jedes Jahr eine gewisse Zeit in deutschen Gefängnissen nach einer Verurteilung für Bagatelldelikte. Die meisten sind mehrfach in öffentlichen Verkehrsmitteln ohne gültigen Fahrschein erwischt worden. Letzteres ist in Deutschland eine Straftat. Gemäß § 265a StGB kann mit Geldstrafe oder mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden, wer die Beförderung durch ein Verkehrsmittel erschleicht, also wer - wie der Volksmund sagt - schwarzfährt.
Nicht wenige Schwarzfahrer landen im Gefängnis
Nach einer Recherche des Politikmagazins „Kontrovers“ im Auftrag von NDR und BR saßen in den Jahren 2019-2021 mehrere Tausend Personen in Deutschland im Gefängnis aufgrund einer Verurteilung wegen Schwarzfahrens. Auf der Grundlage des Straftatbestandes des § 265a StGB wurden allein im Jahr 2019 mehr als 46.000 Menschen verurteilt. Im Corona-Jahr 2020 ging die Zahl nach einem Bericht der ARD leicht zurück. Nicht wenige der Verurteilten mussten später eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen, weil sie den Geldbetrag für die ursprünglich ausgeurteilte Geldstrafe nicht aufbringen konnten. Einige wurden als Mehrfachtäter auch direkt zu einer Haftstrafe verurteilt.
Schwarzfahren ist ein typisches Armutsdelikt
Fahren ohne gültigen Fahrschein gilt unter Kriminologen als sogenanntes Armutsdelikt. Betroffen sind häufig Personen, die sich das Ticket für den ÖPNV nicht leisten können. Bei Mehrfachtätern können leicht mehrere Tausend Euro Geldstrafe zusammenkommen, die beispielsweise für einen Obdachlosen nicht bezahlbar sind. Das endet dann meist in der JVA.
Initiative zum Freikauf Gefangener gegründet
Dieser Zustand war dem Journalisten Arne Semsrott ein Dorn im Auge. Er gründete die „Initiative Freiheitsfonds“. Die Initiative sammelt Geldspenden, um Inhaftierte, die eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen, weil sie den Betrag für eine Geldstrafe nicht aufbringen können, aus der Haft frei zu kaufen. Die Initiative zahlt die Geldstrafe dann aus dem Spendenaufkommen. Nach einem Bericht der ARD hat die Initiative bereits mehr als 400 Personen aus der Haft freigekauft, vornehmlich Schwangere, Drogenabhängige und erkrankte Personen, für die die Inhaftierung besonders schwer zu ertragen ist.
Vollzugsbeamte schwanken zwischen Mitgefühl und Kritik
Bei der Initiative gehen nach deren eigener Auskunft nicht nur Hilferufe von Strafgefangenen ein, auch Beamte aus den Justizvollzugsanstalten bitten inzwischen um Hilfe für physisch und psychisch schwache Gefangene, die ursprünglich nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Von Seiten der Justizbeamten kommt aber auch Kritik an der Praxis des Freikaufs. Der neue Trend führe dazu, dass verurteilte Straftäter ihre Strafe nicht ernst nähmen und anschließend noch weniger Anlass hätten, ein straffreies Leben zu führen.
Ist Gefangenenfreikauf rechtswidrig?
Tatsächlich stellt sich die Frage, ob die Praxis des Freikaufs von Strafgefangenen rechtlich zulässig ist. Immerhin wird durch diese Praxis die Vollstreckung von rechtskräftig verhängten Strafen verhindert oder zumindest vermieden. § 258 Abs. 2 StGB stellt die Vereitelung einer Strafvollstreckung unter Strafe.
BGH lässt Begleichung von Geldstrafen durch Dritte zu
Der BGH hatte sich mit dieser Frage bereits in anderem Zusammenhang zu beschäftigen. Bei der Verurteilung eines Verbandsvorstehers eines Abwasserverbandes wegen vorsätzlicher Verunreinigung von Gewässern zu einer Geldstrafe, hatte der Verband die Geldstrafe für den Manager bezahlt. Der BGH bewertete dies nicht als strafbare Strafvollstreckungsvereitelung. Die Verurteilung zu einer Geldstrafe begründe eine Pflicht des Verurteilten zur Leistung einer vertretbaren Sache. Diese Verpflichtung habe keinen höchstpersönlichen Charakter. Niemand könne einem Unternehmen verbieten, seinen Mitarbeitern einen geldwerten Vorteil in Form der Übernahme einer Geldstrafe zukommen zu lassen (BGH, Urteil v. 7.11.1990, 2 StR 439/90). Inzwischen ist die Übernahme von gegen Manager verhängte Geldstrafen und Geldbußen durch Großkonzerne weit verbreitet.
Geldwerte Geschenke sind auch an Arme erlaubt
Was für Manager im hochpreisigen Geldstrafensegment gilt, kann bei Geldstrafen für den armen „Schlucker“ nicht anders sein. Die Finanzierung von Geldstrafen über Spenden ist nach dieser Rechtsprechung also nicht als Strafvollstreckungsvereitelung zu werten. Auch dem Staat kommt eine solche Praxis finanziell durchaus zugute, denn ein Hafttag kostet je nach Bundesland bis zu 200 Euro.
Ampel plant Reform der Leistungserschleichung
Die Bundesregierung hat das Problem erkannt. Die Ampelkoalition hat eine Überarbeitung des § 265a StGB in Aussicht gestellt. Eine der diskutierten Optionen ist die Herabstufung des Fahrens ohne Fahrschein zu einer Ordnungswidrigkeit. Damit könnten Bußgelder verhängt werden, die in der Regel deutlich geringer als Strafzahlungen ausfallen und auch von finanziell schlechter gestellten Menschen leichter aufzubringen sind. Außerdem würden betroffene Personen damit dem Stigma einer Vorstrafe entrinnen. Allerdings: Auch wer eine Geldbuße hartnäckig nicht bezahlt, muss letzten Endes in Haft. Einige, darunter der StGB-Kommentator Thomas Fischer, äußern daher grundsätzliche Zweifel an der Strafwürdigkeit eines solchen Verhaltens und sehen darin eher ein auf die Ebene des Zivilrechts zu positionierendes Problem.
Hintergrund:
Der Straftatbestand des Erschleichens von Leistungen wurde im Jahre 1935 im StGB eingeführt. Die Auslegung des Straftatbestandes war eine Zeit lang hoch umstritten.
Anwälte kritisieren zu weite Auslegung des Tatbestandes
Strafbar ist nach dem Wortlaut der Vorschrift, „Wer die Leistung eines Automaten oder eines öffentlichen Zwecken dienenden Kommunikationsnetzes, die Beförderung durch ein Verkehrsmittel oder den Zutritt zu einer Veranstaltung oder Einrichtung in der Absicht erschleicht, das Geld nicht zu entrichten“. Im Fokus der Kritik steht die Auslegung des Begriffs „erschleicht“. Anwälte kritisieren die Praxis der Rechtsprechung, bereits diejenigen zu verurteilen, die eine Straßenbahn in der Absicht betreten, den Fahrpreis nicht zu entrichten. Da diese Schwarzfahrer faktisch die Straßenbahn in der gleichen Weise wie die rechtstreuen Nutzer beträten, stelle sich die Frage, mit welchem Tun das Tatbestandsmerkmal des Erschleichens verwirklicht werde, denn auch der Schwarzfahrer umgehe ja keine Schutzvorkehrungen oder Kontrollen.
BGH unterstützt weite Auslegung
Der BGH hat sich zu dieser Kritik eindeutig positioniert. Der Begriff des Erschleichens setzt danach das Überwinden von Schutzvorkehrungen nicht voraus. Nach seinem Wortsinn beinhalte der Begriff der Erschleichung lediglich das Ergattern der Leistung auf einem unrechtmäßigen und unlauteren Wege. Eine Beförderungserschleichung liege schon dann vor, wenn der Täter sich in den Genuss der Leistung bringt und hierbei den Anschein der Ordnungsgemäßheit und Lauterkeit erweckt (BGH, Beschluss v. 8.1.2009, 4 StR 117/08).
OLG Köln verlangt nicht einmal Heimlichkeit
Das OLG Köln setzte auf diese Rechtsprechung noch eins drauf: Einem besonders gewieften Schwarzfahrer, der bewusst den Eindruck der Lauterkeit nicht erwecken wollte und eine Mütze mit der Aufschrift trug: „Ich fahre schwarz“, half auch dies nichts. Wenn der Schwarzfahrer unauffällig warte, bis er einem kontrollierenden Schaffner auffällt, gebe er sich einen lauteren Anschein und erfülle den Tatbestand der Beförderungserschleichung. Die Aufschrift auf der Mütze erschüttere den vorgetäuschten Lauterkeitseindruck nicht (OLG Köln, Beschluss v. 28.9.2015, II 1 RVs 118/15).
BayObLG zieht Strafbarkeitsgrenze enger
Die Grenze zur Strafbarkeit sah das BayObLG allerdings in einem Fall nicht als überschritten an, in dem Jugendliche gegen geplante Fahrpreiserhöhungen protestierten, in Straßenbahnen Flugblätter verteilten und offen auch gegenüber dem Fahrpersonal erklärten, keinen Fahrschein zu besitzen. Dieses Verhalten erfüllte nach Auffassung des Gerichts nicht mehr das Merkmal des „Erschleichens“, das begrifflich eine gewisse Heimlichkeit voraussetze und das angesichts des offenen Verhaltens in diesem Fall nicht erfüllt sei (BayObLG, Beschluss v. 21.2.1969, RReg. 3a St 16/69).