Standortbestimmung - das System Kanzlei vor der Gründung verstehen


Standortbestimmung - das System Kanzlei verstehen

Warum Standortbestimmung, wenn doch eines sicher ist: So wie es ist, soll es nicht bleiben? Beim Thema Kanzleigründung möchte man Ideen und Konzepte entwickeln, sich mit Produkten und Dienstleistungen beschäftigen. Vielleicht auch Kanzlei und Rechtsberatung völlig neu denken oder zum Legal Tech-Unternehmer werden. Was nach “Flow” klingt, endet jedoch im Chaos, wenn man nicht einige Grundregeln beherzigt, wie das “3 Phasen Modell” von Lewin zeigt.

Um zu verändern und “neu zu denken” muss man zunächst einmal die Dienstleistung Rechtsberatung verstanden haben und auch das Konstrukt Kanzlei als etabliertes System zur Erbringung dieser Leistung. Dabei hilft ein Blick in die Berufsrechtsordnung ebenso wie in begleitende Regelungen.

Kanzleien sind als “Mini-Organisation” prinzipiell in zwei Ebenen unterteilt: Anwälte und Nichtanwälte mit verschiedene Hierarchiestufen. Dieses System wird sowohl von den etablierten Partnerschaftsregelungen wie auch von den gesetzlichen Regelungen manifestiert, weshalb es kaum aufgebrochen werden kann.

"It´s a people business"

Doch viel wichtiger als diese Spielregeln sind die Spieler – denn wie beim Fußball ist es ein Unterschied, ob man Sonntagnachmittag auf dem Dorfanger oder in der Champions-League spielt und wie das Team zusammengesetzt ist. Zur Standortbestimmung gehört es also vor allem auch, die Kompetenz, die Fähigkeiten, die Expertise und das Potenzial der Kollegen und Mitarbeiter richtig einzuschätzen.

Zusammensetzung des Kanzlei-Teams als weitgehend unterschätzter Erfolgsfaktor

Nun kann man sagen: Ich fange ja gerade erst an. Keine Ahnung, wer in meinem Team sein wird, wer sich wie bewährt. Wie die Branchen-Statistik (Tutschka  “Kanzleigründung und Kanzleimanagement”) zeigt, gründen 2 von 3 Anwälten nicht allein und als Berufsanfänger, sondern

  1. zusammen mit Kollegen in Partnerschaft oder zumindest Bürogemeinschaft
  2. sind keine Berufsanfänger, sondern haben bereits mindestens 5 Jahre Berufserfahrung, was bedeutet, dass sie
  3. Führungs- und Teamerfahrung haben und
  4. einen substantiellen Mandantenstamm bedienen und
  5. im Markt positioniert sind.

Doch die wesentliche Bedeutung des Erfolgsfaktors "Zusammensetzung" des Kanzlei-Teams wird dabei viel zu häufig aus den Augen verloren oder unterschätzt.

Die komplette Kanzlei-Neugründung ist eher die Ausnahme

Die Kanzlei-Neugründung, aus den "Nichts" heraus ist eher selten. Die Regel ist dagegen die sogenannte Aus- und Umgründung, die im Wesentlichen drei Ursachen hat:

  1. unternehmerische Ursachen
  2. fachliche Ursachen
  3. persönliche Ursachen

Den unternehmerischen Ursachen liegt idealerweise geschäftliches Wachstum zugrunde. Das kann bedeuten, dass aufgrund von Mandats-Schwergewichten nun aus Haftungsgründen ein Rechtsformwechsel ansteht. Das kann aber auch bedeuten, dass Großkunden die Eröffnung weiterer Standorte erfordern oder das “Einverleiben” kleinerer lokaler Kanzleien und neue Partnerstrukturen bewältigt werden müssen.

Das Paradebeispiel für fachliche Ausgründungen sind die sogenannten Boutique-Kanzleien – oft von langjährigen Partnern aus Großkanzleien heraus. Diese hochspezialisierten Kleinstkanzleien bestehen aus wenigen Experten, die sich nicht nur mit einem Fachgebiet auf eine ganz bestimmte Zielgruppe, sondern oft sogar auf eine einzige Rechtsfrage spezialisiert haben. Die Ausgründung ist dann der richtige Weg, wenn dieses Spezialgebiet vom Brot-und-Butter-Geschäft der Großkanzlei kannibalisiert wird. Interessant ist sie aber auch für die sogenannten Komplementär-Rechtsgebiete, die der anspruchsvollen Mandantschaft eine gesamtheitliche Beratung und den Schaufenster-Rechtsgebieten der Kanzlei damit Geschäft und Umsatz garantieren, selbst aber ihre Abteilungsleiter mangels originären Umsatzes kaum auf Partner-Niveau heben.

Die Mehrzahl der Kanzleigründungen erfolgt zufällig 

Auch die Etablierung von Partnerschaften folgt persönlichen Gründen. Diese persönlichen Ursachen für Aus- und Umgründungen liefert das Leben: Da wird sich verliebt und gestritten, Alfa-Tiere, Egomanen und Platzhirsche haben zu wenig Platz zum Rangeln und zusammen ist man weniger allein. Diese Auslöser liegen nach meinen Erfahrungen aus mehreren Jahrzehnten in der Branche an der Spitze als Ursache für Kanzleigründungen.

Die Überarbeitung, Modernisierung und Neustrukturierung der jahrzehntealten etablierten Partnerwerdungsregelungen ist daher für viele Kanzleien heute überlebenswichtig,

  • um einerseits nicht durch das durch den Wandel bedingte Auseinanderbrechen von Partnerschaften zu leiden und
  • andererseits überhaupt erst Nachwuchsjuristen für den Partnerweg zu motivieren.

Einer von vielen neuen Ansätzen kann der Einsatz moderner Recruitingwerkzeuge für die Partnerwerdung sein. Warum nicht zukünftige Partnerpersönlichkeiten und –zusammenschlüsse nach den Leadership Forecast Series der Hogan Assessments analysieren – wie das in Großunternehmen längst üblich ist?

Kanzleikauf bzw. -übernahme gehören streng genommen nicht zur Kanzleigründung

Dennoch soll es der Vollständigkeit halber erwähnt werden: Was vor nicht allzu langer Zeit noch als “idealer Eintritt in die Selbstständigkeit” galt, ist heute schlicht obsolet. Nur in den wenigen Ausnahmefällen, in denen die Kanzlei nicht mit dem (scheidenden) Kanzleiinhaber identisch ist, sondern sich eine eigene Marke mit eigenem Mandantenstamm aufgebaut hat, mag das heute noch gelingen (→ Der Anwalt als Marke).

In der Regel gilt jedoch, dass diese (Einzel-)Kanzleien mit dem Anwalt aus dem Geschäftsleben ausscheiden und ihm nicht seinen Altersruhestand sichern. Das liegt daran, dass die Mandate auf ihn und seine Person zugeschnitten und damit nicht übertragbar sind. Vor allem aber daran, dass der Mandantenstamm im selben Alter ist und ebenfalls aus dem Geschäftsleben ausscheidet. Die Sparkasse als Investitionspartner legt daher ebenso wie andere Finanzpartner für den Verkaufswert einer Kanzlei grundsätzlich reduzierende Multiplikatoren an (Details dazu in Tutschka „Kanzleigründung und Kanzleimanagement“, S.106).

Einen ganz neuen und hochinteressanten Aspekt bringt das Reizthema Legal Tech: Dass Kanzleien innovativ sein müssen, um Produkte und Dienstleistungen für den Rechtsmarkt nicht nur nebenbei zu entwickeln, liegt auf der Hand. Viele Kanzleien haben ihre Prototypen in der Schublade und ihre Alfa-Versionen in der Teststrecke. Doch wie geht es weiter? Eine Idee wurde zum Produkt und soll nun in den Markt gebracht werden.

Kanzleien sollen sich im Legal Tech-Business etablieren: Doch ist Legal Tech Kanzlei-Business?

Das Legal Tech soll nicht den Nicht-Juristen überlassen werden, aber ist es überhaupt noch Kanzlei-Business? Es geht um die ganz banalen Fragen jeden Start Ups: Wo finde ich Investoren? Wie baue ich Marketing und Vertrieb auf? Und: Ist das noch Kanzlei-Geschäft? Habe ich als Anwalt die erforderliche Zulassung? Ist die Rechtsanwaltskammer oder das Gewerbeamt zuständig? Und wann genau sollte das “Kind” das Haus verlassen oder besser: wann muss es das Haus verlassen?

Gerade für die Themen Investoren, Partnerschaften, Vertrieb und Marketing ist es bei all den Reglementierungen für die Rechtsberatung entscheidend, ob das Produkt aus einer Kanzlei heraus oder aus einem Unternehmen in den Markt gebracht wird.

Die Rechtsformwahl und der Zeitplan

In welcher Rechtsform gegründet wird, entscheiden Formalia, Haftungsfragen, gesunder Menschenverstand und persönliche Vorlieben.

Dabei sollten etablierte Rechtsformen wie der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, der Bürogemeinschaft, über die Partnerschaft bis hin zur GmbH ebenso Berücksichtigung finden wie neuere Modelle: Was spricht z.B. dagegen, sich mit anderen noch nicht etablierten Kollegen im Rahmen einer Genossenschaft zusammenzuschließen?

Nach erfolgreicher Standortbestimmung wird der Weg, der zurückgelegt werden muss, um die Kanzleivision zu verwirklichen, deutlich werden. Es wird erkennbar, was beibehalten werden kann und was unbedingt geändert werden muss. Spätestens jetzt sollte nicht nur ein Zeitplan für das Projekt Kanzleigründung erstellt werden, sondern eine Strategie: Wie komme ich von A nach B?

Der Weg führt durch's Chaos

Kurt Lewin, Sozialpsychologe und Begründer der "Berliner Schule" (um 1950), sagt: Der Weg führt durch´s Chaos. Am Beispiel eines Eisblocks demonstriert er anschaulich, dass der Weg von einem festen Aggregatzustand (Eisblock) zum anderen (Wasser) durch völlig unbekanntes Gebiet (Auftauen) führen muss und damit kaum planbar ist. Die festen Konstanten in seinem Modell sind allenfalls der Ist- und der Endzustand.

Was zeigt das Modell für die Kanzleigründung? Chaos gehört am Anfang des Projektes Kanzleigründung dazu. Und man sollte es zulassen und sich darauf einlassen. Mit Lewin ist sicher: Chaos dauert nicht ewig. Strukturen werden sich finden. Mit oder ohne Gegenwehr!

Doch Sie sollten Ihre Hausaufgaben gemacht und Ihre Standortbestimmung sorgfältig evaluiert nicht nur in der Schublade haben, sondern direkt am Reißbrett für den Entwurf Ihrer neuen Kanzlei. Ein Klassiker kann dabei wertvolle Dienste leisten: die SWOT Analyse, die im Folgenden besprochen wird.

→ Dr. Geertje Tutschka ist Juristin, Beraterin und Coach sowie Präsidentin der deutschen Sektion der International Coach Federation (ICF). In ihrem Fachbuch  „Kanzleigründung und Kanzleimanagement“ beschäftigt sie sich mit dem Gründungsthema.

Schlagworte zum Thema:  Rechtsanwalt, Kanzleigründung, Recht