Ein letztes Kapitel der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen


Letztes Kapitel der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen

Es ist noch nicht vorbei: Das Gerichtsverfahren gegen den „Buchhalter von Auschwitz“ Oskar Gröning läuft seit Wochen in Ludwigsburg. Aufsehen erregt nicht nur das für NS-Täter ungewöhnliche Geständnis des Angeklagten, sondern auch die offen zu Tage getretene Spaltung der Nebenkläger.  

Seit knapp 1958 existiert in Ludwigsburg die “Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“. Die Ergebnisse der Ermittlungen werden von den örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften verwertet. Ca. 7.500 Vorermittlungsakten hat die Zentralstelle seit dieser Zeit an die zuständigen Staatsanwaltschaften weitergeleitet. Vieles davon versickerte ohne Folgen für die Betroffenen in Behördenschränken.

BGH schützt faktisch die NS-Täter

Nachdem die zögerliche Aufarbeitung von NS-Verbrechen ein Dauerthema ist, hat in den vergangenen 15 Jahren der die Zentralstelle leitende Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm richtig Fahrt aufgenommen. Hintergrund war ein Urteil des LG München im Demjanjuk-Prozess. Das LG hatte sich vom bisher gültigen engen Schuld- und Beihilfebegriff des BGH gelöst.

Der BGH verlangte in einem grundlegenden Urteil in den sechziger Jahren, dass dem Angeklagten eine konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen wird. Allein die Tätigkeit als Aufseher in einem Konzentrationslager, dessen Zweck nicht ausschließlich die Tötung von Menschen gewesen sei, war nach dieser Rechtsprechung nicht ausreichend für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord (BGH, Urteil v. 20.2.1969, 2 StR 280/67).

Eine „funktionelle Mittäterschaft“ führt zur Verurteilung

In Abweichung von dieser Rechtsprechung hat das LG München es im Fall des KZ-Mitarbeiters Demjanjuk für eine Verurteilung als ausreichend angesehen, dass der Aufseher Demjanjuk Teil des Räderwerks einer Tötungsmaschinerie in einem Vernichtungslager war, das nur dann funktionieren konnte, wenn sämtliche Räder vom Aufseher bis zum „Henker“ reibungslos ineinander griffen (LG München, Urteil v. 12.5.2011, 1 Ks 12496/08).

Wer bewusst in einer solchen Maschinerie mitmache, der sei auch für die Folgen juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Die Ludwigsburger Behörde hat auf dieser Grundlage jetzt - 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs - eine letzte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in Deutschland angestoßen, reichlich spät - wie die noch überlebenden Opfer des Nationalsozialismus zurecht meinen.

Täter und Opfer sterben langsam weg

In den letzten Jahren hat die Zentralstelle ca. 50 Fälle herauskristallisiert, in denen die betroffenen Täter noch leben und die nach Auffassung der Behörde in besonderem Maße der Verfolgung wert sind und die nach dem Legalitätsprinzip auch verfolgt werden müssen. 10 dieser Täter sind inzwischen verstorben, 30 Fälle wurden an die zuständigen Staatsanwaltschaften weitergeleitet. Sämtliche Verdächtigen sind mittlerweile über 90 Jahre alt, was schon allein wegen des Gesundheitszustandes der Betroffenen die Durchführung von Verfahren sehr schwierig macht. Viele der betroffenen Angeklagten dürften im übrigen haftunfähig sein.

Juristische Aufarbeitung immer noch dringlich

Trotz dieser Umstände ist für die meisten der Überlebenden des Holocaust eine juristische Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts immer noch von immenser Bedeutung. Zu lange hat die Justiz in Deutschland sich hinter den vom BGH geschaffenen hohen Hürden für eine Verurteilung der Naziverbrecher verschanzt.

Viele BGH-Richter waren auch NS-Richter

Anfang der 60-er Jahre waren 80 % der am BGH tätigen Richter Personen, die bereits in der NS-Zeit als Richter an deutschen Gerichten geurteilt haben. Wer da einen Zusammenhang zwischen diesem Umstand und der Rechtsprechung zu NS-Tätern vermutete, konnte zu dieser Zeit in Justizkreisen sehr schnell in Ungnade fallen. Damals wäre eine Aufarbeitung des NS- Unrechts sicher viel sinnvoller und besser möglich gewesen als heute.

Auf unrühmliche Weise hat aber die Justiz selbst eine solche Aufarbeitung verhindert. Die Generation der heutigen Richter denkt anders; für die meisten vom NS-Unrecht Betroffenen kommt dies aber zu spät. Für die wenigen Überlebenden ist die Aufarbeitung aber umso bedeutender.

6.500 Täter - davon 49 verurteilt!

Die aktuellen Ermittlungen der Ludwigsburger Behörde richten sich ausschließlich gegen KZ- Aufseher. Insgesamt gab es während der NS Diktatur ca. 7.500 solcher Aufsichtspersonen. 6.500 hiervon haben in den fünfziger Jahren noch gelebt. Nur ganz wenigen konnte man die nach der BGH Rechtsprechung erforderliche unmittelbare Mitwirkung bei der Vernichtung menschlichen Lebens nachweisen. Verurteilt wurden in der BRD bisher 29 Aufseher, in der ehemaligen DDR 20. Das sind 49 von 6.500 in den fünfziger Jahren noch lebenden Tätern.

Gröning ist einer der letzten

Vor diesem Hintergrund weckt der Prozess gegen Oskar Gröning nicht nur in der Bundesrepublik einiges Aufsehen. Ihm wird Beihilfe zum Mord an 300.000 Lagerinsassen angelastet - ein Verbrechen von geradezu unvorstellbarem Ausmaß. Das Überraschende und Besondere an dem Prozess: Gröning hat im Wesentlichen gestanden, sich moralisch an der Vernichtung der Lagerinsassen schuldig gemacht zu haben. Die juristische Bewertung hat er ausdrücklich in die Beurteilung des Gerichts gestellt. Die meisten der 60 Nebenkläger können ob dieser sophistischen Unterscheidung keine ehrliche Reue Gröning`s erkennen.

Wie ein Donnerhall: Ein überlebendes Opfer verzeiht dem Angeklagten

Überraschend ist eine Nebenklägerin,  Eva Mozes Kor, aus der Reihe der übrigen ausgeschert und ist in aufsehenerregender Weise während der Gerichtsverhandlung auf den Angeklagten zugegangen, hat den Arm um ihn gelegt und öffentlich erklärt, dass sie ihm verzeihe.

Frau Kor und ihre Zwillingsschwester waren ihrer Vergasung im KZ-Auschwitz nur deshalb entgangen, weil der berüchtigte Lagerarzt Josef Mengele die beiden für seine berüchtigten medizinischen Experimente auserkoren hatte. Bis heute grübelt Frau Kor laut eigener Aussage darüber nach, was Mengele ihr wohl alles injiziert hat.

Spaltung der Nebenkläger

Frau Kor betont, sie wünsche einerseits die Aufarbeitung des NS-Unrechts, sie rate den Holocaust-Überlebenden aber, ihren Peinigern zu verzeihen und zu vergeben. Nur so könnten sie sich nachhaltig von der Belastung der damaligen Zeit befreien. Die meisten übrigen Nebenkläger widersprechen. Eine Verurteilung der Täter sei schon deshalb erforderlich, weil sie - die Nebenkläger - nicht befugt seien, für die unzählig vielen Opfer, die den Tod erlitten hätten, Vergebung auszusprechen. Die Diskussion um Vergeben und Verzeihen hat inzwischen zu einer regelrechten Spaltung und erheblichen Spannungen unter den Nebenklägern geführt.

Juristisch sind noch Hürden zu überwinden 

Der Ausgang des Verfahrens wird aber auch sonst mit Spannung erwartet. Ob der BGH seine Rechtsprechung im Falle einer Revision tatsächlich ändern würde, ist keineswegs sicher. Juristen weisen darauf hin, dass das Urteil des LG München in dem Demjanjuk-Prozess nicht rechtskräftig geworden ist. John Demjanjuk war während des Laufs des Revisionsverfahrens beim BGH verstorben. Außerdem bestand die Besonderheit, dass Dermjanjuk in einem reinen Vernichtungslager tätig war, hierzu gehörten Sobibor, Treblinka und Belzec. Gröning war demgegenüber in Auschwitz tätig, einem Konzentrationslager, in dem Insassen grundsätzlich arbeiten mussten und in dem es nach Auffassung des BGH nicht zwingend zur Vernichtung eines jeden Insassen kam. Die juristische Qualifizierung ist also noch nicht ausgemacht.

Opfer nehmen Gröning die Reue nicht ab

Bisher hat Gröning nicht zugegeben, selbst an der Vernichtung menschlichen Lebens direkt beteiligt gewesen zu sein. Genau dies ist es, was einige Nebenkläger ihm als Unehrlichkeit vorwerfen. Eva Pusztin-Fahidi - ebenfalls überlebendes Opfer und Nebenklägerin - meint, Gröning sei mehrfach selbst „an der Rampe tätig“ gewesen, er habe unmittelbar bei Selektionen mitgemacht, er müsse sich auch juristisch schuldig bekennen und ehrliche Reue zeigen, dann könne auch sie ihm vergeben. Juristisch würde ein solches Vergeben an der Durchführung des Verfahrens aber nichts ändern: Es gilt das Legalitätsprinzip und: Mord verjährt nicht!


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