Beweisergebnisse sind nicht immer eindeutig. Nicht selten zieht ein nachinstanzliches Gericht aus einer protokollierten Beweisaufnahme andere Schlüsse als die Vorinstanz. Der BGH äußerte sich wiederholt zu der Frage, wann ein zweitinstanzliches Gericht eine von der Vorinstanz abweichende Entscheidung allein auf eine vorinstanzlich protokollierte Zeugenaussage stützen darf bzw. wann eine erneute Beweisaufnahme erforderlich ist.

Der Kläger war aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit dem anderen Geschäftsführer-Gesellschafter aus einer GmbH als Gesellschafter einvernehmlich ausgeschieden. Anschließend klagte er u.a. Vergütungsansprüche aus seiner Anstellung als Geschäftsführer ein, die nach seinem Ausscheiden als Gesellschafter entstanden waren. Zwischen den Parteien war streitig, ob eine Vereinbarung hierzu vorlag. Die zu dieser Frage durchgeführte Beweisaufnahme hatte das LG von dem Vorliegen einer solchen Zusatzvereinbarung überzeugt und zur Abweisung der Klage geführt.   

Die gleiche Beweisaufnahme veranlasste OLG zu gegenteiligem Ergebnis

Das OLG würdigte das Ergebnis der Beweisaufnahme ausschließlich auf der Grundlage des erstinstanzlich erstellten Protokolls. Nach seiner Auffassung war die behauptete Vereinbarung über ein Ausscheiden des Klägers als Geschäftsführer aufgrund der protokollierten Zeugenaussagen keinesfalls erwiesen. Das OLG gab der Klage daher statt. Die Beklagte begehrte auf dem Beschwerdeweg die Zulassung der Revision und hatte Erfolg.

Verletzung des Grundsatzes der Gewährung rechtlichen Gehörs

Der BGH erteilte nun der Vorgehensweise des OLG eine schallende Ohrfeige. Eine von der Vorinstanz abweichende Wertung des Beweisergebnisses allein auf der Grundlage des Beweisaufnahmeprotokolls sei keine geeignete Vorgehensweise, um  ein landgerichtliches Urteil zu kippen. Habe ein zweitinstanzliches Gericht die Absicht, eine protokollierte Zeugenaussage abweichend von der Vorinstanz zu werten und komme es hierdurch zu einem von der erstinstanzlichen Entscheidung abweichenden Ergebnis, sei in aller Regel eine erneute Vernehmung der Zeugen vor dem Instanzgericht erforderlich. Nur so sei es dem Spruchkörper möglich, einen eigenen Eindruck von dem Sinngehalt der Aussagen und der Glaubwürdigkeit der Zeugen zu gewinnen. Die Revision habe zu Recht einen schweren, das Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzenden Verfahrenfehler gerügt.

Verzicht auf erneute Zeugenvernehmung nur in besonderen Ausnahmefällen

Der BGH wies darauf hin, dass die Rechtsprechung einen Verzicht auf die Vernehmung von Zeugen in besonderen Ausnahmefällen zulasse. Voraussetzung sei, dass das Berufungsgericht seine von der Erstinstanz abweichende Bewertung ausschließlich auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Zeugenaussage betreffe. Vorliegend habe das Gericht den Zeugenaussagen ein völlig anderes Gewicht beigemessen als die Vorinstanz und den Sinn der Aussagen neu gedeutet. Dies sei ohne erneute Vernehmung der Zeugen nicht zulässig. Der BGH hat den Fall daher zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurück verwiesen.

(BGH, Beschluss v. 21.6.2011, II ZR 103/10)

 


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