Religiöse Ganzkörperverschleierung darf vom nationalen Gesetzgeber verboten werden
Eine 24-jährige Muslima hatte geklagt. Seit dem Jahr 2011 ist in Frankreich die Verhüllung des Gesichts im öffentlichen Raum untersagt. Religiöse Kleidungsstücke erwähnt das Gesetz nicht ausdrücklich. In der Praxis betrifft das Gesetz aber vor allem die islamische Burka und den Nikab.
Burka ist die strengste Form der Verhüllung
Die Burka wird hauptsächlich in Afghanistan getragen und ist die strengste Form der Verhüllung des weiblichen Körpers. Es handelt sich um ein weites Gewand, das über den Kopf gezogen wird und die Frau bis zu den Zehenspitzen verhüllt. Der Nikab ist ein Gesichtsschleier, der zusätzlich zum Kopftuch getragen wird und der – wie die Burka - meist nur einen kleinen Sehschlitz frei lässt. Er ist vor allem in den arabischen Ländern gebräuchlich.
Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem EGMR betont, dass niemand in ihrer Familie sie zum Tragen einer Ganzkörperbedeckung zwinge. Sie trage diese auch nicht immer. Sie betrachte es aber als Ausdruck ihrer Religionsfreiheit, selbst zu entscheiden, wann und zu welchen Anlässen sie ihr Gesicht verschleiere. Dies sei Ausdruck ihrer innersten religiösen Überzeugung. Außerdem sehe sie in dem gesetzlichen Verbot eine Beeinträchtigung ihrer Privatsphäre.
Empfindliche Strafdrohung
Nach der französischen Regelung droht der Frau bei einem Verstoß gegen das Verschleierungsverbot die Verhängung einer Geldbuße von bis zu 150 EUR. Außerdem kann ihr die Teilnahme an einem Staatsbürgerkundeunterricht auferlegt werden. Die Polizei ist grundsätzlich verpflichtet, im öffentlichen Raum bei Frauen mit einer Ganzkörperbedeckung die Personalien aufzunehmen. Eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren Haft bzw. eine Geldstrafe von mindestens 30.000 EUR. droht Männern, die ihre Frauen zum Tragen einer Ganzkörperverschleierung zwingen.
Großer Gestaltungsspielraum für die Politik
Entgegen den Erwartungen der Fachleute zeigte der EGMR eine erstaunliche Toleranz gegenüber den staatlichen Bekleidungsvorschriften. Der Staat habe das Recht, Minimalanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben zu stellen. Die Erkennbarkeit des Gesichts der Mitmenschen sei Grundbestandteil der Regeln einer offenen Gesellschaft. Durch die extreme Verschleierung werde eine künstliche Barriere zwischen den Menschen aufgebaut und eine Verschlossenheit geschaffen, die dem Bild einer offenen Gesellschaft nicht entspreche. Daher habe der Staat den Gestaltungsspielraum, für das gesellschaftliche Zusammenleben im Hinblick auf die allgemein anerkannten gesellschaftlichen Ziele eine Mindestordnung zu schaffen.
Eingriff in die Menschenrechte ist laut EGMR gerechtfertigt
Der EGMR ging dabei durchaus davon aus, dass das Verschleierungsverbot für französische Muslima einen Eingriff in deren Religionsfreiheit sowie in deren Recht auf Privatsphäre bedeute. Art. 8, 9 EMRK seien daher tangiert. Der Eingriff sei aber durch die höherrangigen Ziele der Verwirklichung einer demokratischen, offenen Gesellschaft gerechtfertigt und daher von den Betroffenen hinzunehmen. Die Burka – so das Gericht – errichte eine Barriere zwischen ihrer Trägerin und der Umwelt. Sie untergrabe damit den inneren Zusammenhalt in der Gesellschaft.
EGMR der Inkonsequenz beschuldigt
Erste Kritik ist an dem Urteil des EGMR bereits laut geworden. Bisher hatte das Gericht in ständiger Rechtsprechung in der Regel das Verbot öffentlicher religiöser Kleidung und Symbole lediglich in öffentlichen Räumlichkeiten wie Schulen und Universitäten gebilligt. Das Urteil eines türkischen Gerichts gegen Mitglieder einer Religionsgemeinschaft, die in der Öffentlichkeit religiöse Symbole trugen, hat der EGMR dagegen als menschenrechtswidrig und als Verstoß gegen die Religionsfreiheit gebrandmarkt. Das Urteil hatte das Gericht seinerzeit damit begründet, dass im allgemeinen öffentlichen Raum der Beurteilungsspielraum von Regierungen deutlich niedriger anzusetzen sei als in öffentlichen Einrichtungen (EGMR, Urteil v. 30.10.2010, 41135/98). Darin sehen Experten einen Widerspruch zum mit dem jetzigen Urteil eingeräumten äußerst weiten Ermessen des Gesetzgebers.
Kritik von verschiedenen Gruppen
In Frankreich wird – anders als in Deutschland - das Burkaverbot auch von Feministinnen stark kritisiert. Das Gesetz sei von dem damaligen französischen Präsidenten Sarkozy instrumentalisiert worden, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Konservative Kreise hatten seinerzeit unter Betonung der französischen Werte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ das Gesetz eingeführt.
In einer demokratischen Gesellschaft sei es staatsbürgerliche Pflicht, sich in die Gesellschaft zu integrieren und dabei sein Gesicht zu zeigen. Einige muslimische Gruppen in Frankreich wollen das Verbot weiter bekämpfen. Ihr Motto: „Touche pas a ma constitution“ (Hände weg von meiner persönlichen Einstellung). Belgien und das Schweizer Tessin sind dem französischen Vorbild schon gefolgt. Sie müssen um die Vereinbarkeit ihrer Gesetze mit der EMRK nun nicht mehr bangen.
(EGMR, Urteil v. 1.7.2014, 43835/11).
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