EU-Verbandsklagerichtlinie seit 25. Juni EU-weit anwendbar
In Deutschland existiert mit der Musterfeststellungsklage für Verbraucher bereits ein Instrument zur gemeinschaftlichen Prozessführung für Fälle gleichartiger Verbraucherbeschwerden gegen Unternehmen. Ein Nachteil dieses Verfahrens gegenüber der echten Sammelklage besteht darin, dass die Musterfeststellungsklage nicht zu einem vollstreckbaren Titel führt, sondern Verbraucheransprüche nur dem Grunde nach festgestellt werden (oder nicht) und der Verbraucher zur Erlangung eines vollstreckbaren Titels seine individuellen Ansprüche anschließend gerichtlich gesondert geltend machen muss. Dies soll sich mit Einführung einer neuen Abhilfeklage ändern.
Neue Abhilfeklage zur Umsetzung der EU-Verbandsklage-Richtlinie
Den Kern der Reform bildet das „Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz“(VDuG). Dieses eröffnet in Umsetzung der „EU-Richtlinie 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der kollektiven Interessen der Verbraucher“ die Möglichkeit der Bündelung im wesentlichen gleichgelagerter Rechte einer Vielzahl von Verbrauchern in einer einheitlichen Klage. Obwohl gemäß EU-Richtlinie die Umsetzungsfrist am 25.6.2023 endete, hat aufgrund bestehender parlamentarischer Differenzen in einzelnen Punkten der Bundestag erst am 7.7.2023 das Gesetz beschlossen. In Kraft ist es damit entgegen der EU-Vorgabe noch nicht.
Abhilfeklage zur effektiven Umsetzung von Verbraucherrechten
Bundesjustizminister Marco Buschmannsieht in der neuen Abhilfeklage ein für Verbraucher leicht verfügbares Instrument zur raschen und effektiven Umsetzung ihrer Rechte u.a. in Produkthaftungsfällen, bei Verbraucherverträgen auf Ersatzlieferungen, auf Schadenersatz oder auch auf Reparaturen. Daneben könnte die Abhilfeklage auch in einigen anderen Fällen wie der Durchsetzung des „Digital Markets Act“ zum Zuge kommen. Die Abhilfeklage ist an eine Reihe von Voraussetzungen gebunden, die denen der bisherigen Musterfeststellungsklage nicht unähnlich sind. Die Musterfeststellungsklage bleibt daneben erhalten. Sie soll allerdings aus der ZPO (§§ 606 bis 614 ZPO) entfernt und in das VDuG integriert werden.
Klagebefugnis nur für zugelassene Verbände
Die neue Abhilfeklage ist als Verbandsklage ausgelegt. Klageberechtigt sind ähnlich wie bei der Musterfeststellungsklage nur bestimmte zugelassene Verbraucherschutzverbände, u. a. aus den Bereichen Umweltschutz, Verbraucherschutz, Datenschutz und Gesundheitsschutz, § 1 VDuG.
Abhilfeklage zur Entscheidung im wesentlichen gleich gelagerter Fälle
Voraussetzungen für die Erhebung der Abhilfeklage ist gemäß §§ 14, 15 VDuG die Gleichartigkeit von Verbraucheransprüchen in einer Vielzahl von Fällen. Die Gleichartigkeit der Verbraucheransprüche soll eine „schablonenhafte Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen“ in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch das Gericht ermöglichen. Auf Vorschlag des Rechtsausschusses wurde das Kriterium der Gleichartigkeit sozusagen in letzter Minute dadurch erweitert, dass die Ansprüche lediglich “im wesentlichen gleichartig“ sein müssen. In der Praxis könnten sich an diesem Punkt erhebliche Abgrenzungsprobleme zur Frage, was „im wesentlichen gleichartig“ bedeutet, ergeben.
Abhilfeklage nicht auf Verletzung von EU-Recht beschränkt
Die Reform geht insoweit über die EU-Richtlinie hinaus, als das Verfahren nicht nur bei Verletzung bestimmter Verbraucherschutzbestimmungen nach EU-Recht, sondern grundsätzlich auf alle Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmen Anwendung findet. Möglich sind auch grenzüberschreitende Klagen innerhalb der EU.
Verbandsklageregister
Ähnlich wie bei der Musterfeststellungsklage wird ein Klageregister eingerichtet. Das Register für Verbandsklagen wird beim Bundesamt für Justiz geführt, § 43 VDuG und kann elektronisch betrieben werden. Öffentliche Bekanntmachungen von Terminen müssen später spätestens 2 Wochen vor dem jeweiligen Termin erfolgen. Verbraucher können ihre Ansprüche bis zum Ablauf von 3 Wochen nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung zur Eintragung in das Verbandsklageregister in Textform anmelden, § 46 VDuG. Die Anmeldung muss enthalten:
- Namen und Anschrift des Verbrauchers,
- die Bezeichnung des Gerichts und Aktenzeichens,
- die Bezeichnung des Beklagten,
- den Gegenstand und Grund des Anspruchs sowie
- eine Versicherung über die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben.
- Ein Zahlungsanspruch soll auch Angaben zur Höhe enthalten.
Die Eintragung der Angaben in das Verbandsklageregister findet ohne inhaltliche Prüfung statt. Eintragungen werden nach 10 Jahren gelöscht.
Anmeldung durch Anwälte nur elektronisch
Anmeldungen oder Rücknahmen, die durch einen Rechtsanwalt erklärt werden, müssen gemäß § 47 Abs. 2 VDuG zwingend über das vom Bundesamt für Justiz hierfür elektronisch bereitgestellte Formular erfolgen. Eine Übermittlung in Textform ist nur bei vorübergehender technischer Unmöglichkeit einer elektronischen Anmeldung gestattet. Die technische Unmöglichkeit ist unverzüglich glaubhaft zu machen.
Abhilfeklage nicht nur für Zahlungsansprüche
Mit der neuen Abhilfeklage können nicht nur Zahlungsanträge gestellt werden, sondern auch Anträge auf Verurteilung zu einer anderen Leistung, z. B. auf Feststellung eines Rechtsverhältnisses ähnlich der bisherigen Musterfeststellungsklage. Möglich sind 3 Varianten:
- Variante 1: Gemäß § 16 Abs. 1 Satz 2 VDuG klagen vom klagenden Verband namentlich bezeichnete Verbraucher unmittelbar auf Leistung an die Verbraucher.
- In der 2. Variante klagt der Verband auf Leistung an lediglich nach Gruppenmerkmalen identifizierbare Verbraucher, wobei zunächst ein Abhilfegrundurteil und nach einer Vergleichsphase gegebenenfalls ein Abhilfeendurteil ergeht (Standardmodell).
- Variante 3 bietet gemäß § 16 Abs. 4 VDuG unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, Abhilfegrund- und Abhilfeendurteil zusammenzufassen.
Auch kleinere Unternehmen können sich anschließen
Eine weitere wichtige Besonderheit der Reform liegt in der Erstreckung des Anwendungsbereichs auch auf kleinere Unternehmen, die sich wie Verbraucher der Klage anschließen können. Kleinere Unternehmen werden definiert als Betriebe mit weniger als 50 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von unter 2 Mio. Euro. Diese Besonderheit hat allein prozessuale Bedeutung und ändert nichts an dem materiellrechtlichen Verbraucherbegriff des § 13 BGB.
Verbraucherquorum
Zulässig ist die Verbandsklage gemäß § 4 Abs. 1 VDuG dann, wenn die klageberechtigte Stelle nachvollziehbar darlegt (ursprünglich war Glaubhaftmachung erforderlich), dass von der Abhilfeklage Ansprüche von mindestens 50 Verbrauchern betroffen sind oder von den Feststellungszielen die Ansprüche oder Rechtsverhältnisse von mindestens 50 Verbrauchern abhängen.
Verjährungshemmung
Die Reform ist in vielen Punkten an die bisherigen Regelungen zur Musterfeststellungsklage angelehnt. Dazu gehört der Beitritt von Verbrauchern und Kleinunternehmen zu dem Verfahren im „Opt-in-Verfahren“ innerhalb von 3 Wochen nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung. Gemäß neuem § 204a BGB-E werden Ansprüche von Verbrauchern und Kleinunternehmen durch Erhebung einer Verbandsklage gehemmt. Die Verjährungshemmung endet 6 Monate nach dem Zeitpunkt, zu dem der Verbraucher nicht mehr an der Klage teilnimmt.
Drittfinanzierung ist zulässig
Die Finanzierung der Verbandsklage durch Dritte ist grundsätzlich zulässig. Die Verbandsklage ist aber unzulässig, wenn sie von einem Dritten finanziert wird, der
- ein Wettbewerber des verklagten Unternehmers ist,
- der vom verklagten Unternehmer abhängig ist oder
- von dem eine Beeinflussung der klageberechtigten Stelle zulasten der Verbraucher zu befürchten ist, § 4 Abs. 2 VDuG
- dem ein wirtschaftlicher Anteil am Verfahrenserfolg von mehr als 10 % versprochen wird (mit Ausnahmen für Gewinnabschöpfungsklagen nach § 10 UWG).
Zuständigkeit der Oberlandesgerichte
Zuständig zur Entscheidung über die Abhilfeklage ist das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das beklagte Unternehmen seinen Sitz hat, § 22 VDuG. Die Abhilfeklage soll durch die unmittelbare Zuständigkeit der Oberlandesgerichte zu einer erheblichen Entlastung der Instanzgerichte führen.
Dreiphasige Entscheidungsfindung
Das gerichtliche Verfahren unterteilt sich gemäß §§ 16 ff VDuG in drei Phasen:
- In der ersten Phase prüft das Gericht die Berechtigung der erhobenen Ansprüche dem Grunde nach. Ist das Ergebnis eindeutig negativ, kommt es sofort zur Klageabweisung.
- In der zweiten Phase sollen die Parteien den Versuch einer gütlichen Einigung unternehmen. Sie haben in dieser Phase die Möglichkeit zu einem Vergleichsabschluss auf der Grundlage des ergangenen Grundurteils.
- Scheitern die Vergleichsgespräche, wird das Verfahren fortgesetzt. Das Gericht entscheidet durch Abhilfeendurteil.
Vergleiche bedürfen der gerichtlichen Genehmigung
Die Parteien können einen gerichtlichen Vergleich mit Wirkung für die im Verbandsklageregister angemeldeten Verbraucher schließen. Ein solcher Vergleich bedarf grundsätzlich der Genehmigung des Gerichts, § 9 VDuG. Jeder zum Verbandsklageregister angemeldete Verbraucher kann innerhalb einer Frist von einem Monat nach Bekanntgabe des Vergleichs im Verbandsklageregister seinen Austritt aus dem Vergleich erklären, § 10 VDuG.
Kollektiver Gesamtbetrag
Das Abhilfeendurteil wird gegebenenfalls die Verurteilung des verklagten Unternehmens zur Zahlung eines kollektiven Gesamtbetrags zur Erfüllung der berechtigten Ansprüche der Teilnehmer durch einen gemäß § 23 VDuG zu bestellenden Sachwalter enthalten, § 18 Abs. 2 VDuG. Die Höhe dieses Betrages bestimmt das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung, § 19 VDuG.
Umsetzungsverfahren mit Sachwalter
Nach Erlass eines Urteils prüft der Sachwalter die zum Abhilfeverfahren angemeldeten Ansprüche der Verbraucher, §§ 22 ff VDuG.
- Der Sachwalter errichtet gemäß § 25 VDuG einen Umsetzungsfonds.
- Er prüft die individuelle Anspruchsberechtigung und kann hierüber auch Nachweise und Erklärungen verlangen.
- Berechtigte Verbraucheransprüche werden vom Sachwalter erfüllt, § 27 VDuG.
- Stellt der Sachwalter fest, dass der vom Gericht ausgeurteilte Gesamtbetrag für die Befriedigung der berechtigten Ansprüche nicht ausreicht, kann das Gericht auf Antrag der klageberechtigten Stelle den kollektiven Gesamtbetrag nachträglich angemessen erhöhen.
- Verbrauchern, deren Ansprüche abgelehnt worden sind, bleibt die Möglichkeit, ihren Einzelanspruch im Rahmen eines gerichtlichen Individualverfahrens anschließend selbstständig geltend zu machen.
Widerspruch gegen Sachwalterentscheidungen
Gegen die in Textform mitzuteilenden Entscheidungen des Sachwalters können betroffene Verbraucher binnen 4 Wochen Widerspruch einlegen. Der Widerspruch ist in Textform an den Sachwalter zu richten und zu begründen, § 28 VDuG. Die darauf ergehende Widerspruchsentscheidung des Sachwalters ist gerichtlich nicht überprüfbar. Sollte der Sachwalter die Ansprüche eines Verbrauchers ablehnen, bleibt dem Verbraucher die Möglichkeit der Erhebung einer Individualklage gegen das Unternehmen.
Schlussrechnung und Schlussbericht
Das Umsetzungsverfahren endet mit einer Schlussrechnung und einem Schlussbericht des Sachwalters, der vom Gericht überprüft wird. Gerichtlichen Beanstandungen hat der Sachwalter abzuhelfen. Erst wenn alle gerichtlichen Beanstandungen behoben sind, stellt das Gericht die Beendigung des Umsetzungsverfahrens fest, § 36 VDuG.
Rechtsanwaltsvergütung
Vertritt ein Rechtsanwalt einen Beteiligten im Umsetzungsverfahren, so bestimmt sich der der Vergütung zu Grunde zu legende Gegenstandswert gemäß § 23c RVG-E unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Interesses, das der Auftraggeber verfolgt. Für die Tätigkeit im Umsetzungsverfahren soll eine 0.5 Verfahrensgebühr nach einer neuen Nummer 3339 gemäß Anlage 1 (Vergütungsverzeichnis) anfallen. Bei der Vertretung mehrerer Verbraucher, die verschiedene Ansprüche geltend machen, entsteht die Gebühr jeweils gesondert.
Übergangsregelung für Musterfeststellungsklage
Die Übergangsregelung des Art. 4 VRUG bestimmt die Anwendung der bisherigen Regelungen zur Musterfeststellungsklage auf Musterfeststellungsklagen, die vor dem 25.6.2023 anhängig gemacht worden sind. Auf Musterfeststellungsklagen ab dem 25.6.2023 werden die neuen Regelungen angewandt.
Anpassung weiterer Gesetze
Flankierend sind Anpassungen in einer Reihe weiterer Gesetze erforderlich, so in der ZPO, im GVG, BGB, im UWG, in der Musterfeststellungsklageregisterverordnung, dem Unterlassungsklagegesetz, dem Verbraucherstreitbeilegungsgesetz sowie in einer Reihe weiterer Gesetze.
Einführungsfrist für Verbandsklage deutlich gerissen
Die EU-Verbandsklage-Richtlinie muss in allen Mitgliedsstaaten seit dem 25.6.2023 angewendet werden. Die Bundesregierung hat es nicht geschafft, die Verbandsklage rechtzeitig zum 25.6.2023 in deutsches Recht umzusetzen. Auf die Verabschiedung des Gesetzes durch den Deutschen Bundestag könnte im September die Beratung des nicht zustimmungspflichtigen Gesetzes im Bundesrat erfolgen. In Kraft treten dürfte das Gesetz damit nach Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler und den zuständigen Fachminister und Ausfertigung durch den Bundespräsidenten frühestens im 4. Quartal 2023.
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