Anrechnungsregelung § 67 Abs. 4 StGB teilweise verfassungswidrig

Zeigt sich bei einem Straftäter eine schwere psychische Störung, verfügen Gerichte neben der eigentlichen Strafe häufig die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus. Der Aufenthalt dort kann langwierig werden. Die sich anschließende Vollstreckung einer verhängten Freiheitsstrafe kann dann leicht zu einer gefühlten Verdopplung der Strafe führen.

Zu wenig und zu selten angerechnet

Um diese Wirkung der Strafverschärfung abzumildern, ordnet § 67 Abs. 4 StGB eine teilweise Anrechnung der Unterbringungszeit auf die Haftstrafe an. Die Voraussetzungen, unter denen eine solche Anrechnung möglich ist, sind nach Auffassung des BVerfG aber zu eng gefasst.

Im entschiedenen Fall war der Beschwerdeführer in den Jahren 1992 bis 2000 zu unterschiedlichen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Wegen einer psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers schob die StA die Vollstreckung der Freiheitsstrafe über mehrere Jahre auf. Im Juni 2004 verurteilte ein LG den Beschwerdeführer wegen verschiedener Delikte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Monaten und ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Dort befand sich der Beschwerdeführer dann von August 2004 bis Januar 2009. Der hierbei erzielte Behandlungserfolg war so gravierend, dass der zuständige Sachverständige die Einleitung der Entlassungsvorbereitungen befürwortete.

„Altstrafen“ vereitelten die Entlassung

Auf Antrag des Beschwerdeführers wurde die Unterbringung in der Psychiatrie am 15.01.2009 beendet und mit der Vollstreckung einer mehr als 3jährigen Freiheitsstrafe aus dem Jahr 1993 begonnen. Den Antrag des Beschwerdeführers auf Anrechnung der über 4jährigen Unterbringungszeit auf die noch ausstehenden Haftstrafen wies die StA unter Hinweis auf § 67 Abs. 4 StGB zurück. Nach dieser Vorschrift sei eine Anrechnung nur auf Haftstrafen  aus dem gleichen Urteil, das die Unterbringung angeordnet habe, möglich, auf sonstige Haftstrafen nur, wenn Gesamtstrafenfähigkeit bestünde. Da beide Voraussetzungen nicht vorlägen, sei eine Anrechnung nach dem Gesetz ausgeschlossen.

 

Freiheitsstrafe und Unterbringung sind kumulativ möglich

Dies stellte das zur Entscheidung berufene BVerfG zunächst klar. Die Verfassungsrichter wiesen dabei auf die Zweispurigkeit des Rechtsfolgensystems des deutschen Strafrechts hin. Freiheitsstrafen würden als Sanktion für vorwerfbares schuldhaftes Verhalten verhängt, Maßregeln der Besserung und Sicherung, zu denen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gehört, dienten demgegenüber in erster Linie dem Schutzinteresse der Allgemeinheit. Diese unterschiedlichen Zwecke bedingen nach Auffassung der Richter zwangsläufig die grundsätzliche Zulässigkeit einer kumulativen Anordnung der verschiedenen Maßnahmen. 

 

Vikariierendes System

Nach Auffassung der Verfassungsrichter ist aber zu beachten, dass eine Maßregel der Besserung und Sicherung die Gefährlichkeit eines Täters aufgrund einer schicksalhaft erlittenen Erkrankung voraussetze. Letztlich beruhe eine Unterbringung somit auf einem von dem Untergebrachten nicht beherrschbaren Persönlichkeitsmerkmal.

Zugunsten der Allgemeinheit werde ihm durch eine freiheitsentziehende Maßregel ein Sonderopfer auferlegt, das nicht auf dem strafrechtlichen Schuldprinzip beruhe. Deshalb habe der Gesetzgeber sich in § 67 StGB zu Recht für ein System entschieden, das zumindest eine teilweise Anrechnung der als Sonderopfer erlittenen Freiheitsentziehung auf Haftstrafen vorsehe (vikariierendes System).

 

Verhältnismäßigkeitsprinzip gebietet Härtefallregelung

Die Anrechnungsregelung des § 67 Abs. 4 StGB ist nach Ansicht der Verfassungsrichter aber insoweit zu eng gefasst, als sie eine Anrechnung nur für Strafen aus dem gleichen Urteil und bei Gesamtstrafenfähigkeit vorsehe. Dies missachte den Grundsatz, dass Freiheitsstrafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung einander so zuzuordnen seien, dass die Zwecke beider Maßnahmen möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dass dabei in die Freiheitsrechte des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG mehr als erforderlich eingegriffen würde. Hieraus folge, dass in Härtefällen die Anrechnung von freiheitsentziehenden Maßnahmen auf Haftstrafen möglich sein müsse, auch wenn die Voraussetzungen von § 67 Abs. 4 StGB nicht erfüllt seien.

 

Ziel der Resozialisierung darf nicht kaputt gemacht werden

Einen solchen Härtefall sahen die Verfassungsrichter vorliegend als gegeben an. Aus dem verfassungsrechtlich fundierten Resozialisierungsauftrag folgt nach Auffassung der Richter die Verpflichtung des Staates, im Maßregelvollzug erzielte Therapieerfolge, nicht durch anschließende anderweitige Strafvollstreckungen zu gefährden. Die im Maßregelvollzug eingesetzten Therapieprogramme seien nämlich regelmäßig darauf angelegt, den Verurteilten nach Eintritt des Therapieerfolgs keiner weiteren Freiheitsentziehung mehr auszusetzen, weil dies regelmäßig den Therapieerfolg wieder zunichte mache.

Nicht hingenommen werden könne, dass der von der Verfassung geforderte Strafzweck der Resozialisierung durch eine einfachgesetzliche vollstreckungsrechtliche Regelung einseitig zu Lasten eines anderen Strafzwecks marginalisiert oder sogar vereitelt werde, es sei denn es bestünden hierfür sachliche Gründe von erheblichem Gewicht. Hierbei sei im konkreten Fall auch der ungewöhnlich (lange) Verlauf des Vollstreckungsverfahrens zu berücksichtigen, an dem den Beschwerdeführer keinerlei Verschulden treffe. Nach dieser Entscheidung hat das LG unter Beachtung der vom BVerfG aufgestellten Grundsätze über den Anrechnungsantrag des Beschwerdeführers erneut zu entscheiden

(BVerfG, Beschluss v. 27.03.2012, 2 BvR 2258/09)


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