Stealthing, das heimliche Abstreifen des Kondoms beim Sex, ist eine Straftat
Das Urteil des OLG Schleswig-Holstein kommt - nach einem ähnlichen Urteil des KG Berlin vom vergangenen Jahr - einem Dammbruch gleich, denn andere Gerichte hatten zuvor bei einvernehmlichem Sex den Tatbestand des sexuellen Übergriffs von vornherein verneint.
Eigener Straftatbestand des sexuellen Übergriffs
§ 177 StGB stellt sexuelle Handlungen unter Strafe, wenn der Sexualpartner den konkreten sexuellen Handlungen nicht aus freiem Willen zugestimmt hat. Für diverse Fälle, wie Krankheit oder Behinderung des Opfers sowie bei Gewaltanwendung sehen § 177 Abs. 4 bis Abs. 8 StGB erhöhte Strafrahmen vor und werten in diesen Fällen die Tat als Verbrechen mit Freiheitsstrafen nicht unter einem, in besonders qualifizierten Fällen nicht unter zwei Jahren.
Über die Benutzung eines Präservativs bestand eigentlich Einvernehmen
In dem vom OLG entschiedenen Fall unterhielt eine Frau mit dem Angeklagten eine lockere Beziehung, in der es häufiger auch zu sexuellen Handlungen kam. Die Frau bestand allerdings grundsätzlich darauf, dass der Angeklagte beim Sex stets ein Kondom benutzte, was dieser über längere Zeit auch tat. An einem Abend streifte der Angeklagte entgegen der bisherigen Gepflogenheit beim Sex während einer Pause - ohne dass die Partnerin es bemerkte - das zuvor benutzte Kondom heimlich ab (Stealthing) und drang anschließend ungeschützt in die Scheide der Frau ein. Die Frau erstattete Anzeige und trat im späteren Strafverfahren als Nebenklägerin auf.
Amtsgericht sprach den Angeklagten noch frei
Das zunächst mit der Sache befasste AG hat den Angeklagten freigesprochen. Wie schon andere Amtsgerichte zuvor
- vertrat das AG die Auffassung, dass § 177 StGB nicht zur Anwendung kommt,
- wenn die sexuellen Handlungen insgesamt einvernehmlich erfolgt sind.
Präservativ gibt dem Geschlechtsverkehr eine andere Qualität
Das OLG stellte demgegenüber auf den nach seiner Auffassung eindeutigen Wortlaut sowie den Strafzweck des § 177 StGB ab, der mit der Strafbarkeit des sexuellen Übergriffs den anderen Sexualpartner grundsätzlich vor sexuellen Handlungen schützen wolle, die von dem erzielten Einvernehmen signifikant abweichen. Das Eindringen in den Sexualpartner sei im Rahmen des Sexualakts einer der intimsten Momente. Dabei mache es einen erheblichen qualitativen Unterschied, ob der Sexualpartner hierbei ein Kondom benutzt oder nicht.
Klar zum Ausdruck gebrachter Wille des Opfers ist entscheidend
Erkläre einer der Partner vor dem Geschlechtsverkehr, dass er dem Geschlechtsverkehr nur mit Kondom zustimme, so könne er damit 3 unterschiedliche Ziele verfolgen, nämlich
- den Schutz vor möglichen Krankheiten infolge ungeschützten Geschlechtsverkehrs,
- die Wahrung einer gewissen Distanz mithilfe der Barriere des Präservativs, denn das Eindringen ohne Kondom sei von einer wesentlich höheren Intimität geprägt.
- Schließlich könne zumindest beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr das Kondom auch als Schutz vor ungewollter Schwangerschaft dienen.
Aus Sicht des OLG kommt es deshalb für die Strafbarkeit des Sexualverhaltens entscheidend darauf an, dass das Opfer klar seinen Willen zum Geschlechtsverkehr nur mit Kondom zum Ausdruck gebracht hat und das Opfer das Abstreifen des Kondoms während des Geschlechtsakt nicht bemerkt hat.
Amtsgericht muss noch weitere Aufklärungsarbeit leisten
Im konkreten Fall war dem Angeklagten nach Auffassung des Senats absolut klar, dass das Opfer den Geschlechtsverkehr nur mit Kondom akzeptierte. Allerdings habe das AG infolge seiner fälschlichen Annahme, der Angeklagte sei freizusprechen, einige u.a. für die Strafzumessung erhebliche Umstände nicht aufgeklärt. Den damit zusammenhängenden Fragen müsse das AG zum Zweck der Aufklärung des Sachverhalts noch nachgehen und dann erneut entscheiden. Demgemäß wies das OLG die Sache zur erneuten Entscheidung und Verhandlung an die Vorinstanz zurück
(OLG Schleswig, Urteil v.19.3.2021, 2 OLG 4 Ss 13/21).
Hintergrund: EU-Recht zu Stealthing
Der Begriff leitet sich ab vom englischen stealth = List, Verstohlenheit, Heimlichtuerei. Zum Thema Sex ohne Kondom gegen den Willen des Sexualpartners existieren in Deutschland bisher nur wenige Urteile. Die Anzeigebereitschaft dürfte in diesen Fällen aus Gründen der Scham eher schwach sein. Die Amtsgerichte lehnten in den wenigen zur Anzeige gebrachten Fällen häufig bei einvernehmlichen Sex den Tatbestand des sexuellen Übergriffs von vornherein ab (AG Kiel, Urteil v.17.11.2020, 38 Ds 559 Js 11670/18).
Große Unterschiede in der Bewertung innerhalb der EU
Im Ausland ist die Bewertung dieser Fälle in der Justiz heftig umstritten. In den USA wird zurzeit in einigen Studentengruppen das „Stealthing“ als regelrechter Sport betrieben. Studenten brüsten sich in sozialen Netzwerken damit, dass sie vor dem Sex heimlich das Kondom abstreifen und tauschen Techniken aus, was zu beachten ist, damit die Sexualpartnerin oder der Sexualpartner das nicht bemerkt. In Schweden wird Sex ohne Kondom gegen den Willen des Sexualpartners als Vergewaltigung gewertet. Wegen zweier Vergehen dieser Art hatte die StA in Stockholm lange nach dem Wikileaks-Gründer Julian Assange mit Haftbefehl gefahndet.
KG Berlin hatte die Vorreiterrolle
In Deutschland hat das KG Berlin erstmalig das heimliche Abstreifen eines Kondoms beim Geschlechtsverkehr als sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1 StGB gewertet. Das KG stellte auf das gemäß § 177 StGB geschützte Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung ab. Dieses beinhalte die Freiheit der Person, über Zeitpunkt, Art, Form und Partner sexueller Betätigung nach eigenem Belieben zu entscheiden. Das KG sah sowohl die ungeschützte Penetration in den Körper des Opfers als auch den anschließenden Samenerguss als eigenständige strafbare Handlungen an, die die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers verletzten.
Einvernehmlicher Sex absprachewidrig ohne Kondom kann Vergewaltigung sein
Im Einzelfall kann das ungeschützte Eindringen in das Opfer verbunden mit anschließender Ejakulation nach der Entscheidung des KG Berlin trotz grundsätzlich einvernehmlichem Sex sogar den Tatbestand der Vergewaltigung in Form eines besonders schweren Falls gemäß § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB erfüllen, wenn der Täter entgegen dem ausdrücklichen Willen
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