Autoritär regierte Staaten kehren Istanbul-Konvention zum Frauenschutz den Rücken
45 Staaten haben das Istanbuler „Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung und Verhütung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ vom 11.5.2011 unterzeichnet. 34 Staaten haben das als Istanbul-Konvention bekannte Abkommen inzwischen ratifiziert, darunter im Jahr 2012 als erster Staat die Türkei, Polen im Jahr 2015. In Deutschland wurde das Abkommen erst im Jahr 2018 ratifiziert und damit in unmittelbar innerstaatlich geltendes Recht transformiert.
Ziel der Istanbul-Konvention: Umfassender Gewaltschutz im öffentlichen und privaten Raum
Mit Unterzeichnung des Abkommens verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten zu innerstaatlichen Maßnahmen zur Eindämmung öffentlicher und häuslicher Gewalt gegen Frauen. Das Abkommen sieht
- präventive und gesetzliche Maßnahmen (u.a. Zivilgesetze und Strafgesetze) zur Eindämmung der Gewalt im öffentlichen Raum,
- gesetzliche Maßnahmen zur Eindämmung der häuslichen Gewalt gegen Frauen vor.
- Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, jegliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie alle Formen häuslicher Gewalt als Verbrechen einzustufen,
- öffentliche Mittel beispielsweise für Frauenhäuser und sonstige begleitende und unterstützende Maßnahmen vorzuhalten und
- die Geschlechtergerechtigkeit im Schulunterricht zu thematisieren und
- jede Art von Diskriminierung zu bekämpfen.
Autoritäre Staaten vermuten versteckte Genderabsichten
Einige eher autoritär orientierte Regierungen – darunter die Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) - sind mit der Unterzeichnung des Abkommens durch ihre Vorgängerregierungen nicht besonders glücklich und streben eine Kündigung des Abkommens an. Als führend in diesen Austrittsbestrebungen erweisen sich zurzeit Polen und die Türkei, die den Austritt bereits vollzogen hat. Beide Länder machen - teils auch um traditionsverhaftete Wählerkreise besser zu erreichen -geltend, das Abkommen verfolge nicht nur den Zweck, Gewalt gegen Frauen zurückzudrängen, vielmehr werde versteckt das Ziel der Gleichstellung von homo- und transsexuellen Partnerschaften angestrebt.
Zu diesem Genderfragen vertrete man von den Tendenzen des Abkommens abweichende Wertvorstellungen. Das Abkommen widerspreche in diesen Staaten den tradierten gesellschaftlichen Konventionen und Grundüberzeugungen und transportiere eine „Gender-Ideologie“.
Türkei ist jetzt per Dekret Erdogan`s ausgetreten
Mit dieser Argumentation hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Nacht zum 21.3.2021 per Dekret den Austritt aus der Istanbul-Konvention verkündet. Völkerrechtlich ist äußerst umstritten, ob ein Austritt aus einer völkerrechtlich wirksam unterzeichneten Konvention in dieser Form und ohne innerstaatlichen Parlamentsbeschluss rechtlich überhaupt möglich ist.
International heftige Kritik an Austritt
Internationale Frauenorganisationen, aber auch der Europarat und einige Unterzeichnerstaaten der Konvention wie die USA haben den türkischen Schritt heftig kritisiert. Allein im vergangenen Jahr sollen mehr als 300 Frauen in der Türkei durch häusliche Gewalt zu Tode gekommen sein. Im Netz kursieren laut einem Bericht der Tagesschau vom 21.3.2021 Videos, die schlimme Gewalttaten an türkischen Frauen zeigen.
Aktionsplan Menschenrechte
Das Dekret Erdogans steht in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu dem kürzlich erst von Erdogan - wohl mit Blick auf die EU - ins Leben gerufenen „Aktionsplan Menschenrechte“, der unter anderem auch eine deutliche Verbesserung der Frauenrechte in der Türkei vorsieht. Hardliner in der religionskonservativen Partei Erdogans steuern aber gegen und gewinnen offensichtlich immer mehr an Einfluss. Erdogan selbst hatte die Unterzeichnung der Istanbul-Konvention seinerzeit als Meilenstein für die Rechte der Frauen in der Türkei bezeichnet. Mit dem jetzigen Schritt bezweckt der Staatspräsident offensichtlich ein Geschenk an konservative Wählerkreise in Zeiten erheblicher wirtschaftlicher Probleme.
Polen will die Istanbul-Konvention ebenfalls verlassen
Die polnische Regierung hat die Absicht, es der Türkei gleichzutun und ebenfalls aus dem Abkommen austreten. Ein Gesetzentwurf der polnischen Regierung unter dem Titel „Ja zur Familie, nein zu Gender“ setzt einen Austritt Polens aus der Istanbul- Konvention voraus. In der Begründung des Gesetzentwurfs wird die Meinung vertreten, dass die Frauen in Polen einen Schutz, wie ihn die Istanbul-Konvention vorsieht, nicht benötigen. Die in der Istanbul-Konvention versteckt enthaltene „Gender-Ideologie“ sei ebenso abzulehnen wie die ideologisch begründete Anerkennung homosexueller Partnerschaften. Solche Wertvorstellungen stünden aber hinter der Istanbul Konvention.
Gesetzeslage in Polen fortschrittlicher als woanders?
Die polnische Regierung selbst verweist auf von der nationalkonservativen Regierung eingeführte nationale Gesetze zum Schutz der Frauen gegen Gewalt. Nach polnischem Recht könne im Fall häuslicher Gewalt gegen eine Frau die herbeigerufene Polizei den Täter mit sofortiger Wirkung der Wohnung verweisen und ein Rückkehrverbot von bis zu 14 Tagen aussprechen. Innerhalb dieses Zeitraums müsse dann ein Gericht entscheiden, ob das Rückkehrverbot verlängert wird oder nicht. Ob der Täter über eine anderweitige Unterkunftsmöglichkeit verfüge, werde bei dieser Entscheidung nach polnischem Recht nicht berücksichtigt. Gegebenenfalls werde der Täter anders nächstgelegene Obdachlosenheim verwiesen. Mit diesen Gesetzen sei Polen fortschrittlicher als viele andere europäische Staaten.
Frauen demonstrieren in Polen und in der Türkei
Sowohl in Polen als auch in der Türkei bestimmt der mögliche Austritt aus dem Istanbul-Abkommen aktuell maßgeblich die öffentliche Diskussion. In den großen Städten der Türkei gehen regelmäßig Tausende Frauen auf die Straße und protestieren gegen den Austritt. Jährlich verlieren in der Türkei mehr als 300 Frauen infolge familiärer Gewalt ihr Leben. Die Dunkelziffer solcher Femizide wird in der Türkei von Kriminologen als extrem hoch eingeschätzt. Die protestierenden Frauen wollen sich daher mit allen Mitteln gegen einen Austritt aus dem Istanbul-Abkommen zur Wehr setzen.
In Polen formieren sich die Frauenvereine
Auch in Polen stößt der Vorstoß des konservativen Justizministers Ziobro auf Einleitung eines Austritts aus dem Abkommen auf Widerstand. Seit Eintritt der Corona-Pandemie ist auch in Polen die häusliche Gewalt nach Einschätzung von Kriminologen signifikant gestiegen. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. In der Hauptstadt Warschau haben bereits ebenfalls Tausende Frauen gegen einen Ausstieg aus dem Abkommen demonstriert.
Die konservative Regierung möchte aus der Konvention wohl auch wegen eines konkreten Gesetzesvorhabens aussteigen, mit dem die Regierung eine heftig umstrittene Strafrechtsreform umsetzen möchte. Danach soll häusliche Gewalt als Ersttat straffrei bleiben und erst im Wiederholungsfalle mit Strafe bedroht werden. Auch innerhalb der Regierung Polens ist ein Austritt aus der Konvention umstritten. Eine offizielle Entscheidung gibt es noch nicht.
Genderfragen sind nicht Inhalt des Abkommens
Die Vorsitzende des Ausschusses für Frauenrechte und Gleichstellung im Europaparlament, Evelyn Regner, hat in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in der Istanbul-Konvention Genderfragen keine Rolle spielen. Es gehe ausschließlich um die Zurückdrängung von Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen. Vor dem Beitritt Armeniens zur Konvention sei eigens ein Gutachten zu dieser Frage angefertigt worden, das zu dem klaren Ergebnis gekommen sei, dass Genderfragen nicht Gegenstand Abkommens sind.
Zuhause ist für Frauen der gefährlichste Ort
Regner weist in dem Interview darauf hin, dass weltweit für Frauen die eigenen vier Wände der gefährlichste Aufenthaltsort sind. Häusliche Gewalt gegen Frauen sei in nahezu allen Ländern weltweit und besonders stark in von einem patriarchalischen Familienbild geprägt Staaten verbreitet. Die Frauenbeauftragte weist für den Fall, dass sich herausstellen sollte, dass die Istanbul-Konvention nicht mehr allgemein konsensfähig ist, innerhalb der EU eine eigene EU-Gewaltschutzstrategie im Rahmen einer neu zu formulierenden EU-Richtlinie im geplant sei.
Austritt mit Signalwirkung für andere?
Nach dem Schritt der Türkei befürchtet die EU Signalwirkung auch für andere Staaten. Insbesondere in den konservativen Visegrad-Staaten Osteuropas bröckelt der bisher bestehende Konsens. Ungarn könnte der nächste Kandidat sein. Ende 2020 hat das ungarische Parlament eine Verfassungsänderung verabschiedet, die Alleinstehenden und gleichgeschlechtlichen Paaren die Adoption von Kindern untersagt und der die Doktrin enthält: Väter sind männlich, Mütter weiblich. Auch in Ungarn wird gemutmaßt, die Istanbul-Konvention enthalte versteckte Tendenzen zur Abkehr von diesem Grundsatz, obwohl die Konvention ausdrücklich diese Themen nicht regelt.
Hintergrund:
Die Istanbul-Konvention verfolgt gemäß Art. 1 das Ziel, Frauen vor Gewalt und jeder Form der Diskriminierung zu schützen. Der Begriff der Gewalt ist weit gefasst und umfasst körperliche, seelische und sexuelle Gewalt, aber auch Stalking, Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung sowie nach Art. 3 jede Form von Gewalt, die zu körperlichem oder seelischem Leid von Frauen oder auch zu wirtschaftlichen Schäden führen kann. Das Thema der häuslichen Gewalt wird in Art. 2 besonders thematisiert. Die Konvention sieht auch einen Kontrollmechanismus vor. Eine Expertengruppe („Group of experts on action against violence against women domestic violence“, GREVIO) überwacht die Einhaltung des Abkommens durch die Vertragsparteien. Das Gremium hat definierte Befugnisse und kann in Situationen schwerer oder systematischer Gewalt gegen Frauen Untersuchungen unmittelbar im Unterzeichnerstaat vornehmen.
Istanbul-Konfention
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