OLG stoppt die Auslieferung von Straftätern in die Türkei
Der entschiedene Fall hat keinerlei Verbindung mit politisch motivierten Straftaten, vielmehr handelt es sich um einen ganz „normalen“ Kriminalfall. Ein Gericht im türkischen Akhisar hatte den Verfolgten am 18.4.2013 wegen Diebstahls in einem besonders schweren Fall in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 8 Monaten verurteilt. Der Verurteilte lebte (und lebt) inzwischen in Deutschland. Die Republik Türkei hatte im Sommer 2015 um dessen vorläufige Festnahme in Deutschland gebeten, nachdem ein Internationales Fahndungsersuchen ergangen und ein türkischer Haftbefehl ausgestellt worden war.
Auslieferungshaft gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt
Auf dieser Grundlage ordnete das OLG Schleswig-Holstein im August 2015 gegen den Verurteilten zunächst vorläufige Auslieferungshaft an. In der Folgezeit zeichnete sich ab, dass die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Auslieferung nicht kurzfristig getroffen werden konnte, wobei ein von dem Verfolgten eingeleitetes Asylfolgeverfahren sowie der Umstand der in der Türkei erfolgten Verurteilung in Abwesenheit wesentliche Gesichtspunkte waren. Gegen Auflagen, unter anderem Stellung einer Sicherheitsleistung in Höhe von 75.000 Euro, wurde der Vollzug der Auslieferungshaft außer Kraft gesetzt.
Generalstaatsanwalt betrieb Auslieferung weiter
Nach entsprechenden Bemühungen des Generalstaatsanwalts Schleswig-Holstein entschied das Gericht in Akhisar durch ein Zusatzurteil, dass dem Verfolgten das Recht auf eine erneute Verhandlung in Anwesenheit eingeräumt werde. Hierauf beantragte der Generalstaatsanwalt die Auslieferung des Verfolgten in die Republik Türkei.
Grundlegende Rechte der Beschuldigten sind außer Kraft gesetzt
Diesen Antrag hat das OLG Schleswig nun abgelehnt. Der Senat stützte sich auf eine Verlautbarung des Auswärtigen Amtes in Berlin vom 16.8.2016, in dem die Auswirkungen des in der Türkei verhängten Ausnahmezustandes auf die Rechtsstaatlichkeit und die Haftbedingungen behandelt wurden. Anlass für die Verlautbarung war eine offizielle Meldung der Türkei an den Europarat, dass die Türkei von der Möglichkeit des Art. 15 MRK Gebrauch gemacht hat, wonach die in der Konvention kodifizierten Rechte eines Beschuldigten weitgehend außer Kraft gesetzt wurden. In der Folge sind in der Türkei die Möglichkeiten der Verteidigung eines Beschuldigten drastisch eingeschränkt:
- Ein Beschuldigter kann ohne richterliche Entscheidung bis zu 30 Tagen in Haft gehalten werden.
- Die Staatsanwaltschaft ist befugt, ohne Zustimmung eines Beschuldigten den von ihm gewählten Verteidiger auszuwechseln und/oder
- die Kommunikation zwischen Verteidiger und Mandant vollständig zu untersagen, so dass
- nach Mitteilung der Rechtsanwaltskammer Ankara eine wirkungsvolle Verteidigung nicht mehr möglich ist.
- Ferner werden Beschuldigte teilweise nur noch summarisch über den Inhalt der gegen sie erhobenen Anklagen informiert,
- ein uneingeschränktes Recht des Beschuldigten, in der gegen ihn geführten Strafverhandlung anwesend zu sein, besteht nicht.
Grundrechte der Beschuldigten auf faires Verfahren außer Kraft gesetzt
Aus diesen Umständen folgert der Senat, dass die Grundrechte des Beschuldigten gemäß Art. 6 MRK, nämlich
- das Recht auf Verhandlung über eine Anklage innerhalb angemessener Frist,
- das Recht auf Unterrichtung über Art und Grund der erhobenen Beschuldigungen in allen Einzelheiten,
- das Recht auf Verteidigung durch einen Verteidiger eigener Wahl
komplett außer Kraft gesetzt sind.
Katastrophale Haftbedingungen in überfüllten Gefängnissen
Auch die Haftbedingungen in der Türkei haben sich nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes inzwischen drastisch verschlechtert. Infolge der Verhaftung tausender Richter und Staatsanwälte sind die Haftanstalten überfüllt. Gefangene werden an ungeeigneten Orten in überfüllten Zellen mit unzureichender oder schlechter Ernährung untergebracht. Sitz- und Schlafmöglichkeiten sind nicht in ausreichender Zahl vorhanden.
Auslieferung mit deutschem „ordre public“ nicht vereinbar
Vor diesem Hintergrund betonte das OLG, das eine Auslieferung grundsätzlich nicht zulässig ist, wenn die in dem anfragenden Staat herrschenden Zustände für Strafgefangene mit wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung nicht vereinbar sind, § 73 IRG (OLG Stuttgart, Beschluss v. 29.8.2016,1 Ausl 326/15, BVerfG, Beschluss v. 20.3.2016, 2 BvR 566/15). Dies trifft nach Auffassung des Senats auf die Türkei angesichts des dort herrschenden Ausnahmezustandes zu. Selbst eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung einer fairen Behandlung des Strafgefangenen - eine solche wollte der Generalstaatsanwalt noch einholen - wäre nach Auffassung des Senats im konkreten Fall nicht geeignet, die durchgreifenden Bedenken hinsichtlich der Haftbedingungen auszuräumen.
OLG Schleswig-Holstein weicht von OLG München ab
Brisant ist die Entscheidung des Senats insofern, als dieser sich mit seiner Ansicht bewusst von einer Entscheidung des OLG München absetzte. Das OLG München hat bisher in Bezug auf die Türkei die Auffassung vertreten, durch Einholung einer völkerrechtlich verbindlichen Zusicherung auf faire Behandlung des Gefangenen könnten die insoweit bestehenden Bedenken wegen Nichteinhaltung der Maßstäbe des Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) ausgeräumt werden (OLG München, Beschluss v. 16.8.2016, 1 AR 252/16). Nach Auffassung des OLG Schleswig-Holstein ist die Türkei schon aufgrund der objektiv bestehenden Umstände durch die völlige Überfüllung der Haftanstalten zu einer angemessenen Behandlung der Strafgefangenen nicht mehr in der Lage. In der Konsequenz hat das OLG daher die zuvor ergangenen Haftanordnungen des Senats vollständig aufgehoben.
Fazit: Die Entscheidung des OLG ist unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Menschenrechte zu begrüßen. Eine Konsequenz der Entscheidung ist aber auch, dass damit verurteilte Straftäter möglicherweise auf Dauer ihrer Strafe entgehen.
(Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschluss v. 22.9.2016, 1 Ausl (A) 45/15)
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