VGH Baden-Würtemberg kippt flächendeckende nächtliche Corona-Ausgangsbeschränkung
Der VGH Mannheim hat einem Eilantrag einer Tübinger Bürgerin stattgegeben und die in Baden-Württemberg gemäß § 1c Abs. 2 CoronaVO-BW seit dem 12. Dezember 2020 geltenden nächtlichen Ausgangsbeschränkungen kassiert.
Umfangreiche Corona-Ausgangsbeschränkungen in Baden-Württemberg
§ 1c CoronaVO-BW in der ab 1.2.2021 geltenden Fassung sieht für das Land Baden-Württemberg seit dem 12.12.2020 umfangreiche Ausgangsbeschränkungen vor.
- Gemäß § 1c Abs. 1 CoronaVO-BW ist der Aufenthalt außerhalb der Wohnung in der Zeit von 5:00 Uhr bis 20:00 Uhr nur bei Vorliegen triftiger Gründe (Arbeit, Arztbesuch, Einkaufen) gestattet.
- Gemäß § 1c Abs. 2 CoronaVO-BW gilt in der Zeit von 20:00 Uhr bis 5:00 Uhr des Folgetags eine erweiterte Ausgangsbeschränkung, die den Aufenthalt außerhalb der Wohnung nur bei im einzelnen aufgeführten besonders gewichtigen Gründen erlaubt.
Gegenstand der Entscheidung des VGH waren die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen gemäß § 1c Abs. 2 CoronaVO-BW.
VGH stellt qualifizierte Anforderungen an Ausgangsbeschränkungen
Die nun ergangene Entscheidung hat der VGH im wesentlichen auf § 28a Abs. 2, Abs. 3 IfSG gestützt. Der in das IfSG neu eingefügte § 28a IfSG bildet die Ermächtigungsgrundlage für diverse dort einzeln aufgeführte Einschränkungen der Freiheitsrechte der Bürger im Rahmen der Bekämpfung COVID-19-Pandemie. Für die Verhängung von Ausgangsbeschränkungen sieht § 28 a Abs. 2 IfSG besondere Anforderungen vor. Danach sind Ausgangsbeschränkungen nur möglich,
„soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 erheblich gefährdet wäre“.
Pandenie-Ausgangsbeschränkungen nur zulässig zur Verhinderung wesentlicher Nachteile
Aus der Formulierung der Vorschrift folgert der Senat des Mannheimer VGH, dass die Verhängung einer Ausgangssperre nicht bereits dann zulässig ist, wenn ihr Unterlassen zu irgendwelchen Nachteilen in der Pandemiebekämpfung führt.
- Die Zulässigkeit einer nächtlichen Ausgangssperre setze vielmehr voraus,
- dass der Verzicht auf die Ausgangsbeschränkungen auch unter Berücksichtigung aller anderen bereits ergriffenen Maßnahmen
- zu einer wesentlichen Verschlechterung des Infektionsgeschehens führt.
Regionale Hot-Spot-Strategie muss als Option geprüft werden
Ein weiterer wichtiger Aspekt folgt nach Auffassung des VGH aus § 28a Abs. 3 IfSG. Hiernach habe der Verordnungsgeber auch dann, wenn er Ausgangsbeschränkungen grundsätzlich für erforderlich hält, eingehend zu prüfen, ob er solche landesweit anordnen muss oder ob regional differenzierte Regelungen in Betracht kommen. Der Gesetzgeber stelle in § 28 a Abs. 3 IfSG die Option eines differenzierten, gestuften Vorgehens in den Vordergrund, das sich am tatsächlichen regionalen Infektionsgeschehen zu orientieren habe.
Inzidenzschwelle für landesweite Maßnahmen grundsätzlich (noch) gegeben
In diesem Kontext sei auch die Vorschrift des § 28 Abs. 3 Satz 10 IfSG in den Blick zu nehmen. Hiernach seien bei
„einer landesweiten Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen landesweit abgestimmte umfassende, auf eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens abzielende Schutzmaßnahmen anzustreben“.
Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist nach den Feststellungen des VGH in Baden-Württemberg aktuell immer noch eröffnet, da die landesweite Sieben-Tage-Inzidenz sich, Stand 4.2.2021, auf 63,5 belaufe.
Dezidierte Begründungspflicht für landesweit einheitliche Ausgangsbeschränkungen
Nach Auffassung des VGH sind nach § 28 Abs. 3 Satz 10 IfSG landesweite einheitliche Maßnahmen danach zwar grundsätzlich zulässig, aber nicht zwingend erforderlich. Aus der Formulierung des Gesetzes folge eine Pflicht zur Begründung der Notwendigkeit landesweiter Ausgangsbeschränkungen.
Dieser Begründungspflicht werde die geltende Corona-VO-BW für den Monat Februar nicht mehr gerecht. Der Verordnungsgeber habe nicht dargelegt, weshalb der Verzicht auf Ausgangsbeschränkungen auch bei Berücksichtigung der übrigen Maßnahmen schwerwiegende Folgen für die wirksame Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 zur Folge hätte. Mit der Sieben-Tage-Inzidenz von aktuell 63,5 bei einem R-Wert bei 0,85 stelle sich das Pandemiegeschehen inzwischen deutlich anders als noch Mitte Dezember 2020 oder Mitte Januar dar.
Ausgangssperre mit Wirkung 11. Februar 5:00 Uhr außer Vollzug gesetzt
Vor diesem Hintergrund bewertete der VGH die Argumentation der Landesregierung, eine umgehende Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen berge immer noch die Gefahr eines plötzlichen expotentiellen Wachstums der Ansteckungen als zu pauschal und zu undifferenziert.
Diese Argumentation entspreche nicht den Anforderungen des § 28a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 IfSG. Landesweit einheitliche nächtliche Ausgangsbeschränkungen seien in dieser pauschalen Form ohne dezidierte Begründung aktuell nicht mehr zulässig, da sie nicht mehr von der Ermächtigungsgrundlage des § 28 a IfSG gedeckt würden. Der VGH setzte die gemäß § 1c Abs. 2 CoronaVO-BW verhängten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen mit Wirkung zum 11. Februar 5:00 Uhr daher außer Vollzug.
(VGH Mannheim, Beschluss v. 5.2.2021, 1 S 321/21)
Landesregierung Baden-Württemberg lenkt ein
Die Landesregierung in Baden-Württemberg hat bereits reagiert und erklärt, das Gericht sei der bereits ins Auge gefassten Aufhebung der ohnehin nur noch bis zum 14.2.2021 geltenden nächtlichen Ausgangsbeschränkungen lediglich um einige Tage zuvorgekommen, auch wenn im Hintergrund auch andere Pläne im Umlauf waren.
Die seit dem 12.12.2020 in Baden-Württemberg geltenden nächtlichen Ausgangsbeschränkungen hätten sich als äußerst effektiv erwiesen und zu dem erheblichen Rückgang der Infektionszahlen in Baden-Württemberg beigetragen. Ob - nach dem Beschluss des VGH grundsätzlich zulässige - regionale Ausgangsbeschränkungen im Rahmen von Hot-Spot-Regelungen noch erforderlich würden, werde noch entschieden.
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