Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU) auch bei Fahrt unter 1,6 Promille
Ein Autofahrer war mit 1,3 Promille am Steuer erwischt worden. Ausfallerscheinungen waren bei ihm trotz der hohen Blutalkoholkonzentration nicht festgestellt worden. Er war daraufhin wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 und 2 StGB) verurteilt worden. Den Führerschein musste er ebenfalls abgeben.
Autofahrer weigerte sich, MPU-Test vorzulegen – Stadt erteilte keinen neuen Führerschein
Als der Mann eine Neuerteilung der Fahrerlaubnis beantragte, forderte ihn die Stadt Kassel auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten (MPU), auch Idiotentest genannt, vorzulegen. Mit Hilfe dieses Gutachtens wollte die Stadt klären, ob der Mann trotz der Hinweise auf Alkoholmissbrauch ein Fahrzeug sicher führen könne und nicht zu erwarten sei, dass er künftig ein Fahrzeug unter einem die Fahrtsicherheit beeinträchtigenden Alkoholeinfluss führen werde. Der Mann weigerte sich, ein derartiges Gutachten vorzulegen. Die Fahrerlaubnisbehörde lehnte es daraufhin ab, ihm eine Fahrerlaubnis zu erteilen, gestützt auf § 11 Abs. 8 Satz 1 Fahrerlaubsnisverordnung (FeV). Dagegen klagte er.
Verwaltungsgericht Kassel sah in fehlenden Ausfallerscheinungen keinen Grund für eine MPU
Nachdem das Verwaltungsgericht Kassel die Klage abgewiesen hatte, hatte der Hessische Verwaltungsgerichtshof die beklagte Stadt dazu verpflichtet, dem Mann die beantragte Fahrerlaubnis zu erteilen, ein medizinisch-psychologisches Fahreignungsgutachten müsse der Mann nicht vorlegen.
Entgegen der Auffassung der Stadt und des Verwaltungsgerichts genüge bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,3 allein das Fehlen von Ausfallerscheinungen nicht, um als sonstige Tatsache im Sinne des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a Alt 2 FeV die Anforderungen eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu rechtfertigen.
Bundesverwaltungsgericht: Stadt dürfte auch Nichteignung zum Führen eines Kfz schließen
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat sich dieser Einschätzung nicht angeschlossen und das Berufungsurteil geändert. Die beklagte Stadt durfte auch die Nichteignung des Mannes schließen, weil er kein positives medizinisch-psychologisches Gutachten vorgelegt hat, so das BVerwG.
Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts steht § 13 Satz 1 Nr. 2 c FeV der von der beklagten Stadt herangezogenen Regelung nicht entgegen. Aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a und c FeV lasse sich nicht entnehmen, dass bei einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit weniger als 1,6 Promille und Anhaltspunkten für eine überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung ein Rückgriff auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV ausscheidet.
§ 13 Satz 1 FeV:
Zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen ordnet die Fahrerlaubnisbehörde an, dass…
2. ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn,
a) … sonstige Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen,
b) wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss im Straßenverkehr begangen werden.
c) ein Fahrzeug im Straßenverkehr mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder mehr …. geführt wurde.
Erhöhte Rückfallgefahr bei hoher Alkoholgewöhnung
Bei Personen, die aufgrund ihres Trinkverhaltens eine hohe Alkoholgewöhnung erreicht haben, bestehe eine erhöhte Rückfallgefahr, so das Gericht:
- Diese Giftfestigkeit führe unter anderem dazu, dass der Betroffene nicht mehr richtig einschätzen könne, wie sich der Alkoholkonsum auf seine Fahrsicherheit auswirke.
- Dass der Betroffene trotz seines hohen festgestellten Blutalkoholspiegels keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen gezeigt habe, sei eine aussagekräftige Zusatztatsache i. S. v.§ 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c Alt. 2 FeV.
- Dieser zusätzliche tatsächliche Umstand rechtfertige mit Blick auf den Buchstaben c die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, auch wenn die Grenze von 1,6 Promille nicht erreicht wurde.
Mehr als 1,1 Promille und keine Ausfallerscheinungen = außergewöhnliche Alkoholgewöhnung
Nach der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand könne von einer außergewöhnlichen Alkoholgewöhnung ausgegangen werden, wenn der Betroffene bei einer Trunkenheitsfahrt 1,1 Promille oder mehr aufweist und dennoch keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen zeigt. Diese Voraussetzungen waren im vorliegenden Fall erfüllt.
(BVerwG, Urteil v. 17.3.2021, 3 C 3.20).
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Hintergrund: Wann droht ein medizinisch-psychologische Gutachten?
Werden der Fahrerlaubnisbehörde Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet ist, kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens verlangen. Rechtsgrundlage sind § 46 Abs. 3 FeV in entsprechender Anwendung der §§ 11 bis 14 FeV
Gemäß § 13 S. 1 Nr. 2 FeV ordnet die Fahrerlaubnisbehörde ein medizinisch-psychologisches Gutachten auch dann an, wenn Anhaltspunkte für einen Alkoholmissbrauch vorliegen, wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen werden und im Falle einer Trunkenheitsfahrt mit mehr als 1, 6 Promille. Ähnliches gilt für Fälle des Drogenmissbrauchs.
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf sie hieraus bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, § 11 Abs. 8 Fahrerlaubnisverordnung (FeV). Die Schlussfolgerung darf aber nur dann gezogen werden, wenn die Beibringung eines Gutachtens zu Recht angeordnet wurde (VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 14.09.2004, 10 S 1283/04).
Bestandteile der MPU sind
1. Fragebögen zur Person,
2. die verkehrsmedizinische Untersuchung,
3. psychologische Leistungstests (Reaktionsvermögen),
4. - besonders gefürchtet - das psychologische Untersuchungsgespräch.
Praxistipp: Der psychologische Gutachter geht aufgrund der Vorgeschichte (Punktestand, Alkoholmissbrauch) von charakterlichen Problemen aus. Er erwartet eine geistige Auseinandersetzung mit dem Problem und konkrete Anhaltspunkte für eine daraus resultierende Verhaltensänderung des Betroffenen. Sehr hilfreich ist hierbei die Teilnahme an einem anerkannten Kurs zur Wiederherstellung der Kraftfahreignung.
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