Müssen Busfahrer besondere Rücksicht auf ältere Fahrgäste nehmen?
Ältere Menschen sind naturgemäß häufig etwas weniger sicher auf den Beinen. Rücksicht nehmen gilt im Alltag als Tugend. Doch wie sieht es in öffentlichen Verkehrsmitteln wie Bus und Straßenbahn aus? Müssen die Fahrer hier besondere Rücksicht auf ältere Fahrgäste nehmen?
Sturz einer Seniorin im öffentlichen Personennahverkehr
Im vor dem OLG Celle verhandelten Fall ging es um eine Seniorin, die in einen Linienbus eingestiegen war. Der Busfahrer fuhr an, als die Frau sich noch nicht gesetzt hatte. Mit der einen Hand war sie noch mit ihrem Portemonnaie beschäftigt, mit der anderen hielt sie ihren Trolley, eine rollbare Einkaufstasche. Beim Anfahren stürzte die ältere Dame und verletzte sich erheblich.
Beweis des ersten Anscheins spricht gegen Fahrgast
Lag hier ein haftungsbegründendes Fehlverhalten des Busfahrers vor? Hätte er die Situation beobachten und Rücksicht auf die Frau nehmen müssen? Nein, entschied das OLG Celle. Ein Schadensersatzanspruch aus § 18 Abs. 1 StVG für vermutetes Verschulden des Beklagten als Busfahrer scheide mangels schuldhaften Sorgfaltsverstoß beim Anfahren des Busses aus.
- Stürzt ein Fahrgast beim Anfahren, egal ob in Bus oder Straßenbahn, so spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Sturz auf eine mangelnde Vorsicht des Fahrgastes zurückzuführen ist (OLG Oldenburg, Urteil v. 06.07.1999, 5 U 62/99).
- Diesen Anschein habe die Klägerin nicht erschüttert, zumal im Eingangsbereich, also dort, wo die Frau stürzte, sowohl vor als auch hinter der Schwingvorrichtung ausreichend Möglichkeiten bestanden, sich sicheren Halt zu verschaffen.
- Außerdem ist laut Gericht anerkannt, dass der Fahrer eines fahrplangebundenen Linienbusses darauf vertrauen darf, dass die Fahrgäste ihrer Verpflichtung, sich stets einen festen Halt zu verschaffen, nachkommen.
Pflichten eines Busfahrers vor dem Anfahren
Welche Pflichten hat ein Busfahrer während des Anfahrens? Hierzu äußerste sich das Gericht wie folgt:
- Anders als die Frau meint, musste der Fahrer, nachdem er ihr signalisiert hatte, dass sie ihren Fahrausweis nicht vorzuzeigen brauche, nicht mehr darauf warten oder achten, dass sie ihr Portemonnaie wieder eingesteckt hat und sich festhält.
- Ein Ausnahmefall liegt vor, wenn eine erkennbare schwere Behinderung des Fahrgastes ihm die Überlegung aufdrängt, dass der Fahrgast ohne besondere Rücksichtsnahme gefährdet ist, so dass dieser beim Anfahren ansonsten stürzen würde
- Eine erkennbar schwere Behinderung liegt etwa dann vor, wenn ein Gehbehinderter, z.B. ein Beinamputierter auf Krücken, oder ein blinder Fahrgast den Wagen besteigen.
Hohes Fahrgastalter und schwere Taschen bewirken keine erhöhte Fahrerpflicht
Die Klägerin war dagegen der Ansicht, der Fahrer müsse ihr schon aufgrund des erkennbaren Alters der Klägerin oder aufgrund des Umstandes, dass diese eine rollbare Einkaufstasche, mit sich führte, besondere Aufmerksamkeit schenken. Anders das Gericht:
- Allein das Alter oder der Umstand, dass mehrere große und schwere Taschen oder Gepäck mitgeführt werden, ist nicht mit einer schwerwiegenden Behinderung gleichzusetzen.
- Eine Ausnahmesituation habe also in dem Fall der gestürzten Frau nicht vorgelegen.
Daran ändere auch der Umstand nichts, dass die Frau Schwierigkeiten hatte, den Trolley in den Bus hochzuheben, so das Gericht.
Schwerbehindertenausweis blieb unbemerkt, weil Fahrer Fahrschein nicht kontrollierte
Eine besondere Facette erhält der Fall dadurch, dass die Frau Inhaberin eines Schwerbehindertenausweises war. Den musste sie aber nicht vorzeigen, da der Busfahrer darauf verzichtet hatte, sich von ihr einen Fahrschein zeigen zu lassen. Hätte der Fahrer den Schwerbehindertenausweis gesehen, hätte er auf eine schwerwiegende Behinderung der Frau schließen können.
Fahrer müssen sich Fahrausweise nicht zeigen lassen, sie können nur
Doch der Busfahrer war nicht verpflichtet, sich von jedem Fahrgast einen Fahrausweis zeigen zu lassen. Das ergibt sich aus § 21 Nr. 5 Satz 1 der Dienstanweisung für den Fahrdienst von Bussen (DF Bus, Stand April 1999): Danach ist der Fahrer (lediglich) berechtigt, sich die Fahrausweise vorzeigen zu lassen. Eine Verpflichtung folgt aus ihr nicht.
Das Gericht wies zudem darauf hin, dass der Zweck des § 21 Nr. 5 Satz 1 DF Bus auch nicht darin bestehe, den Fahrer auf eine mögliche Beeinträchtigung seiner Fahrgäste beim Einsteigen aufmerksam zu machen. Vielmehr gehe es darum, dass Busfahrer dafür Sorge tragen sollen, dass alle Fahrgäste einen Linienbus nur mit gültigen Fahrausweisen nutzen.
Fehler und Sturzursache sah das Gericht bei der Gestürzten
Beim beklagten Busfahrer lag nach Ansicht des Gerichts also kein Pflichtverstoß vor. Bei der Klägerin sah das Gericht dagegen einen schwerwiegender Sorgfaltsverstoß:
- Es war ihr zuzumuten, Geld, Fahrausweis oder - wie hier - den Schwerbehindertenausweis zunächst in der Hand zu behalten
- und sich einen geeigneten Sitzplatz oder zumindest einen festen Stand zu suchen, da sie mit einer unverzüglichen Anfahrt des Busses rechnen musste, zumal sie offenbar auch als einziger Fahrgast eingestiegen war (so auch LG Wuppertal, Urteil v. 15. Juli 2013, 2 O 58/13.
Freie Sitzplätze unmittelbar im Bereich hinter dem Fahrer standen - unstreitig - ebenso zur Verfügung, wie Haltestangen oder -griffe. Aufgrund des erheblichen Mitverschuldens der Seniorin an ihrem Sturz gemäß §§ 9 StVG, 254 BGB kommt eine Haftung des Busfahrers nicht in Betracht.
(OLG Celle, Beschluss v. 26.06.2018, 14 U 70/18).
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Hintergrund:
Nach der Rechtsprechung muss der Fahrgast in öffentlichen Verkehrsmitteln grundsätzlich selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Er könne nicht damit rechnen, dass sich der Busfahrer, welcher das Hauptaugenmerk auf die übrigen Verkehrsteilnehmer habe, um die Sicherheit der einzelnen Fahrgäste bemüht. Hat der Fahrgast jedoch eine erkennbare schwere Behinderung und muss sich dem Busfahrer aufdrängen, dass er vor dem Anfahren auf dessen korrekte Positionierung zu achten hat (OLG Saarbrücken, Urteil v. 3.4.2014, 4 U 484/11).
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