In einem anderen EU-Staat gezahlte Familienleistungen
Hintergrund: Vater arbeitet in Deutschland, Kind lebt in Polen
Streitig war die Anrechnung der polnischen Kinderbeihilfe von 500 Zloty (PLN, sog. 500+) monatlich auf das in Deutschland festgesetzte Kindergeld für den Zeitraum April 2016 bis September 2017. X, polnischer Staatsangehöriger, hat u.a. eine im Streitzeitraum minderjähriger Töchter W (geboren 2004), die mit ihm in der gemeinsamen Familienwohnung in Polen lebte. X wurde im Streitzeitraum von seinem polnischen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt und hatte hier einen Wohnsitz.
Die Familienkasse bewilligte X ab September 2015 Kindergeld für W in voller Höhe (Bescheid vom Juni 2016). Im September 2017 teilte die polnische Behörde (ROPS) der Familienkasse mit, dass X für April 2016 bis September 2017 monatlich 500 PLN (rund 118 EUR) gezahlt worden seien. Daraufhin änderte die Familienkasse im Oktober 2017 den Kindergeldbescheid. Sie rechnete für April 2016 bis September 2017 die polnischen Familienleistungen von insgesamt 2.122 EUR auf das für W gezahlte Kindergeld an und forderte diesen Betrag zurück. Das FG wies die dagegen erhobene Klage mit dem Hinweis auf europäisches Primärrecht ab.
Entscheidung: Dem Vater steht nach den EU-Prioritätsregeln Differenzkindergeld zu
Der BFH bestätigte das FG-Urteil und wies die Revision des X zurück. Der im Inland lebende X erfüllt grundsätzlich die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug des deutschen Kindergelds nach §§ 62, 63 EStG. Dieser Anspruch ist jedoch nach der EG-Verordnung Nr. 883/2004 v. 29.4.2004 (ABlEU 2004 Nr. L 166, S. 1) ausgeschlossen. Ist der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet und liegen konkurrierende Ansprüche vor, sind die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig (BFH Urteil vom 04.02.2016 - III R 9/15, BStBl 2017 II S. 121).
Zusammentreffen konkurrierender Ansprüche
Im Streitfall treffen die Ansprüche des X auf Familienleistungen nach deutschem Recht und entsprechende Ansprüche nach polnischem Recht für dasselbe Kind und denselben Zeitraum aufeinander. Die polnische Behörde hat mit Bindungswirkung für die die Familienkasse eine polnische Familienleistung (500 PLN) für die Tochter W für den Streitzeitraum festgestellt. Aufgrund der Notifizierungserklärung der Republik Polen (gemäß Art. 9 der VO Nr. 883/2004) zählt die "Kinderbeihilfe 500 PLN" zu den Familienbeihilfen i.S. des Art. 3 der VO Nr. 883/2004 (ab 1.4.2016).
Der Anspruch auf 500+ ist gegenüber dem deutschen Kindergeldanspruch vorrangig
Die Anspruchskumulierung ist nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 aufzulösen. Danach war im Streitfall Polen der vorrangige und Deutschland der nachrangige Staat. Denn nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 wird der inländische Kindergeldanspruch in Höhe der ausländischen Familienleistungen ausgesetzt, so dass in Deutschland nur die Differenz (Differenzkindergeld) zwischen dem deutschen Kindergeld und den polnischen Familienleistungen zu zahlen ist (Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 883/2004).
Das deutsche Kindergeld und die polnische Familienleistung 500+ sind gleichartig
Von Gleichartigkeit ist auszugehen, wenn Sinn und Zweck, Berechnungsgrundlage und die Voraussetzungen für die Gewährung übereinstimmen. Das ist hier der Fall:
- Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes einschließlich des Bedarfs für Betreuung, Erziehung und Ausbildung sowie - soweit das Kindergeld hierfür nicht erforderlich ist - der sozialrechtlichen Förderung der Familie.
- Ebenso dient die polnische Regelung der teilweisen Deckung der Ausgaben im Zusammenhang mit der Erziehung, Betreuung und Befriedigung der Lebensbedürfnisse eines Kindes.
- Auch die Anspruchsvoraussetzungen sind vergleichbar. Die deutsche wie die polnische Regelung gewähren regelmäßige Geldleistungen, die ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und des Alters der Kinder gewährt werden.
Änderungsbefugnis der Familienkasse
Der ursprüngliche Festsetzungsbescheid vom Juni 2016 konnte von der Familienkasse nach § 70 Abs. 2 EStG im Oktober 2017 geändert werden. Diese Änderungsvorschrift betrifft den Fall, dass eine ursprünglich rechtmäßige Festsetzung durch Änderung der für den Bestand des Kindergeldanspruchs maßgeblichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten oder des Kindes nachträglich unrichtig wird (z.B. BFH Urteil vom 17.12.2014 - XI R 15/12, BStBl 2016 II S. 100). Das liegt hier vor. Wegen der die Familienkasse bindenden Mitteilung der ausländischen Behörde über die Gewährung der polnischen Familienleistung 500+ ist eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten, durch die die ursprünglich rechtmäßig erfolgte Kindergeldfestsetzung nachträglich unrichtig geworden ist, da die polnische Familienleistung auf das deutsche Kindergeld anzurechnen ist. Nach § 70 Abs. 2 EStG ist die Festsetzung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an aufzuheben bzw. zu ändern.
Hinweis: Übereinstimmung mit der Verwaltungsauffassung
Die Entscheidung bestätigt die Verwaltungsauffassung. Danach besteht ein Anspruch auf Differenzkindergeld, wenn aus anderen EU-/EWR-Staaten oder der Schweiz niedrigere Familienleistungen zustehen. Ist dort wegen nationaler Vorschriften ein Anspruch ausgeschlossen (z.B. wegen Überschreitung einer Alters- oder Einkommensgrenze), besteht Anspruch auf volles deutsches Kindergeld, sofern die Voraussetzungen der §§ 32, 62 ff. EStG erfüllt sind (Abschn. A 29 Abs. 2 DA-KG). Außerhalb der EU-/EWR-Staaten/Schweiz verbleibt es bei der Prioritätsregel des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG.
Der BFH bestätigt die Rechtsprechung, wonach die Mitteilung der ausländischen Behörde über die Gewährung einer Familienleistung Bindungswirkung für die Familienkasse hat (BFH Urteil vom 26.07.2017 - III R 18/16, BStBl 2017 II S. 1237).
Die Fallkonstellation des Streitfalls ist Gegenstand der politischen Diskussion. Die Rechtslage ist aufgrund der EuGH-Rechtsprechung, der der BFH folgt, gegenwärtig geklärt (BFH Urteil vom 16.05.2013 - III R 8/11, BStBl 2013 II S. 1040; BFH Urteil vom 04.02.2016 - III R 16/14, BFH/NV 2016 S. 911). Diskutiert wird die Anpassung des deutschen Kindergelds an die (niedrigeren) Lebenshaltungskosten am Aufenthaltsort des Kindes. Nach der Reform der Familienbeihilfe in Österreich wird ab Jahresbeginn 2019 das Kindergeld indexiert, d.h. an die Lebendhaltungskosten am Wohnort des Kindes angepasst. Die EU-Kommission hat gegen diese Regelung ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Sie könnte den EuGH anrufen.
BFH Urteil vom 25.07.2019 - III R 34/18 (veröffentlicht am 12.12.2019)
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