Kindergeld in den Wohnsitz-Wohnsitz-Fällen

Der Anspruch auf Kindergeld im nachrangigen Staat (Deutschland) ist nicht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen, wenn nur ein Anspruch im nachrangigen Staat besteht, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch im vorrangigen Staat (Polen) aber nicht erfüllt werden.

Hintergrund: Kindergeldanspruch nur in Deutschland, nicht im EU-Ausland

Der Vater V ist polnischer Staatsbürger und seit Juni 2010 verheiratet. Er hat einen Wohnsitz im Inland und war im Streitzeitraum (Januar bis April 2015) nicht erwerbstätig.

Der Sohn A lebt im Haushalt von V und seiner Ehefrau (F) in Polen. F hat sich damit einverstanden erklärt, dass das Kindergeld an V gezahlt wird. F war nicht erwerbstätig. Die Eheleute bezogen für A kein Kindergeld in Polen, da das Familieneinkommen die im Bewilligungszeitraum 1.11.2014 bis 31.10.2015 gültige Einkommensgrenze (von 574 Zloty) überstieg.

Die Familienkasse zahlte zunächst Kindergeld in gesetzlicher Höhe für A. In 2017 hob sie die Kindergeldfestsetzung für den Streitzeitraum auf. V habe nur für die Zeiträume Juni bis Dezember 2014 und Mai bis Dezember 2015, nicht hingegen für den Streitzeitraum Nachweise über die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit vorgelegt. Der Kindergeldanspruch sei wegen fehlender steuerpflichtiger Erwerbstätigkeit und fehlenden Rentenbezugs beider Elternteile nach dem Wohnortprinzip ausgeschlossen (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004).

Das FG gab der Klage mit der Begründung statt, der nationale Kindergeldanspruch sei unionsrechtlich nicht ausgeschlossen.

Entscheidung: Deutsches Kindergeld, wenn im Ausland kein Kindergeld bezogen wird

Der BFH folgt dem FG. V steht das deutsche Kindergeld in voller Höhe zu. Der Anspruch auf deutsches Kindergeld ist nicht durch Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen. Da kein Anspruch in Polen besteht und somit keine konkurrierenden Ansprüche gegeben sind, greift die Prioritätsregelung nicht ein.

Kindergeld-Voraussetzungen nach deutschem Recht  

Der im Inland wohnende V erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. §§ 62 ff. i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG für seinen in Polen lebenden minderjährigen Sohn A. A lebt in einem gemeinsamen Haushalt von X und F in Polen. Für den Kläger liegt eine entsprechende Berechtigtenbestimmung gemäß § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG vor.

Nachrangigkeit des Kindergeldanspruchs in Deutschland; kein Anspruch auf Differenzkindergeld

V unterliegt den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Deutschland, da er im Streitzeitraum weder eine Erwerbstätigkeit ausgeübt noch Leistungen bei Arbeitslosigkeit erhalten hat (Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004). F unterlag jedenfalls aufgrund ihres Wohnsitzes den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Polen, da sie ebenfalls keiner Erwerbstätigkeit nachging. Wird der Anspruch im anderen Mitgliedstaat ebenfalls durch den Wohnort ausgelöst und ist dieser Mitgliedstaat (Polen) zugleich der Wohnort der Kinder, ist der Kindergeldanspruch in Deutschland nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Ziff. iii der VO Nr. 883/2004 nachrangig. Bei Nachrangigkeit des Kindergeldanspruchs in Deutschland wird dieser nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 der VO Nr. 883/2004 bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt. Der an sich nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der VO Nr. 883/2004 vorgesehene Differenzbetrag muss gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 allerdings nicht für Kinder gewährt werden, die in einem Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird (BFH v. 22.2.2018, III R 10/17, BStBl II 2018, 717, Rz 28 f.).

Aber kein Ausschluss des Kindergeldanspruchs im nachrangigen Staat bei Fehlen konkurrierender Ansprüche

Im Streitfall haben V und F jedoch keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen. Es liegen somit keine konkurrierenden Ansprüche i.S. v. Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 vor. Nach dem Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 gelten die Prioritätsregeln nur, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten "zu gewähren sind". Das bedeutet, dass wegen Fehlens eines polnischen Anspruchs und damit fehlender konkurrierender Ansprüche der Anspruch im nachrangigen Staat (Deutschland) nicht ausgeschlossen ist. Denn wenn in einem Mitgliedstaat für ein Kind keine Leistungen vorgesehen sind, weil z.B. die Altersgrenze oder bestimmte Einkommensgrenzen überschritten sind, ist für diese Fallgestaltung die Prioritätsregelung nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 generell nicht anwendbar.

Hinweis: Merkwürdiges Ergebnis

Das Ergebnis erscheint widersprüchlich: Wird der Leistungsanspruch – wie im Streitfall – allein durch den Wohnort ausgelöst und wohnt das Kind in dem anderen Mitgliedstaat, muss Deutschland bei einer nur geringen ausländischen Familienleistung kein Differenzkindergeld leisten. Dagegen ist der inländische Kindergeldanspruch in voller Höhe zu leisten, wenn im vorrangigen Mitgliedstaat (Polen) überhaupt kein Anspruch besteht. Dieses widersprüchliche Ergebnis entspricht aber den europarechtlichen Vorgaben.

BFH Urteil vom 18.02.2021 - III R 27/19 (veröffentlicht am 14.05.2021)

Alle am 14.05.2021 veröffentlichten Entscheidungen des BFH.


Schlagworte zum Thema:  Kindergeld, Europäische Union