Zum Zeitpunkt der Steuerentstehung für Dauerleistungen bei Sollversteuerung
Hintergrund: Einwilligung in die Schließung eines Bahnübergangs und gleichzeitige Klagerücknahme gegen Entschädigung
Zu entscheiden war, ob eine Zahlung im Zusammenhang mit der Schließung eines Bahnübergangs Schadensersatz oder umsatzsteuerliches Entgelt darstellt und ob bei Annahme eines steuerbaren Umsatzes dieser im Streitjahr (2006) oder im Vorjahr zu erfassen ist.
Beim Bau einer Eisenbahnlinie wurden für die Landwirte Übergänge über die Bahngleise zu den jenseits der Trasse gelegenen Flächen geschaffen. In 2003 wurde die Schließung der (bisherigen) Übergänge durch Planfeststellungsbeschluss festgestellt. Der Landwirt L versuchte zunächst, mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht die Schließung seines Übergangs zu verhindern. Mit Vereinbarung vom 18.5.2005 mit der DB Netz AG (DB) stimmte er der Aufhebung des bisherigen Übergangs zu und die DB verpflichtete sich zum Bau eines Ersatzwegs sowie zur Zahlung einer Entschädigung von 128.000 EUR für die aus der Übergangsaufhebung resultierenden Betriebserschwernisse. Auch die aus der Entschädigung entstehenden Steuerbelastungen sollten L erstattet werden. L nahm darauf die verwaltungsgerichtliche Klage zurück.
L erhielt folgende Zahlungen: 2006: 128.000 EUR, 2008: 54.000 EUR, 2011: 23.000 EUR, 2013: 6.000 EUR (Summe: 212.000 EUR), wobei die letzten drei Zahlungen die Abgeltung der ESt betrafen.
Das FA war der Auffassung, L habe eine Leistung an die DB erbracht, die nicht unter die Durchschnittssatzbesteuerung nach § 24 UStG falle und dem Regelsteuersatz unterliege. Die Entschädigung von brutto 212.000 EUR (netto: 182.000 EUR, USt: 29.000 EUR) sei umsatzsteuerliches Entgelt. Das FA setzte für 2006 die USt entsprechend fest.
Das FG gab der Klage statt. Die Entschädigung sei zwar kein Schadensersatz, sondern umsatzsteuerrechtliches Entgelt, das für eine Leistung des L gezahlt worden sei. Die Leistung sei aber nicht im Streitjahr 2006, sondern im Jahr 2005 zu erfassen.
Entscheidung: Die Entschädigung ist Entgelt für die Klagerücknahme
Die Rücknahme der Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss ist eine steuerbare und steuerpflichtige Leistung. Eine steuerbare Leistung liegt vor, wenn zwischen Leistung und Gegenleistung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, der sich regelmäßig aus dem "Rechtsverhältnis", d.h. den vertraglichen Beziehungen zwischen Leistendem und Leistungsempfänger ergibt (BFH v. 20.03.2013, XI R 6/11, BStBl II 2014, 206, mit zahlreichen Hinweisen auf die EuGH-/BFH-Rechtsprechung). Das ist hier der Fall. Denn durch die Vereinbarung vom 18.05.2005 wurden die Klagerücknahme durch L auf der einen Seite und die Verpflichtung der DB zum Bau eines Ersatzwegs und zur Zahlung eines "Entschädigungsbetrags“ von 128.000 EUR auf der anderen Seite in einem unmittelbaren Zusammenhang miteinander verknüpft.
Die Steuer entsteht bei der Sollbesteuerung im Zeitpunkt der Leistungserbringung
Die von L erbrachte Leistung besteht in der infolge der Vereinbarung am 18.5.2005 erklärten Klagerücknahme. Damit ist die Leistung des L nicht im Streitjahr 2006, sondern bereits im Vorjahr 2005 erbracht worden. Denn nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 1 UStG entsteht die Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen bei der Berechnung nach vereinbarten Entgelten mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen oder Teilleistungen ausgeführt worden sind (Sollbesteuerung). Die Vorschrift beruht unionsrechtlich auf Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 77/388/EWG (6. EG-Richtlinie, jetzt: Art. 63 MwStSystRL). Danach treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird. Auf den Zeitpunkt, in dem das Entgelt (hier: die Entschädigungszahlung und die Errichtung des Ersatzwegs) entrichtet wird, kommt es für die Sollversteuerung nicht an (BFH v. 24.10.2013, V R 31/12, BStBl II 2015, 674; Abschn. 13.1 Abs. 1 UStAE).
Mangels Berufung auf Art. 64 MwStSystRL (bzw. die Vorgängerregelung) ist der Zahlungszeitpunkt nicht entscheidend
Für das Streitjahr 2006 ergibt sich aus Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der 6. EG-Richtlinie (jetzt: Art. 64 Abs. 1 MwStSystRL) nichts anderes. Nach dieser Vorschrift gelten Lieferungen von Gegenständen (außer in den in Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der 6. EG-Richtlinie benannten Fällen) und Dienstleistungen, die zu aufeinander folgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlass geben, als mit Ablauf des Zeitraums bewirkt, auf den sich diese Abrechnungen oder Zahlungen beziehen. Der BFH konnte offen lassen, ob diese Voraussetzungen im Streitfall erfüllt sind. Denn die Anwendung von Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 64 Abs. 1 MwStSystRL) setzt voraus, dass der Steuerpflichtige sich auf diese Vorschrift beruft (BFH v. 26.6.2019, V R 8/19 (V R 51/16), BFH/NV 2019, 1211). Das aber hat L jedenfalls nicht getan.
Hinweis: Die Berufung auf Art. 64 MwStSystRL ermöglicht zeitlich gestaffelte Besteuerung
Der Erfolg des L liegt wohl darin, dass das Vorjahr 2005 bereits festsetzungsverjährt ist.
Für die zahlungs- und damit vereinnahmungsbezogene Entstehung der Steuer kommt es für Teilleistungen nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Sätze 2 und 3 UStG auf die wirtschaftliche Teilbarkeit der Leistung und die gesonderte Vereinbarung des Entgelts an. Demgegenüber ist es nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 64 Abs. 1 MwStSystRL) ausreichend, dass Dienstleistungen zu aufeinander folgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlass geben (Teilbarkeit des Entgelts). Da § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 3 UStG nach dem ausdrücklichen Wortlaut hiervon abweichend auf die Teilbarkeit der Leistung und nicht auf das Entgelt abstellt, kann die nationale Regelung nicht im Sinne der Richtlinie ausgelegt werden. Dementsprechend geht der BFH davon aus, dass Steuerpflichtige, um eine gestaffelte Besteuerung zu erreichen, sich unmittelbar auf Art. 64 Abs. 1 MwStSystRL berufen können. Davon hat L offenkundig keinen Gebrauch gemacht.
BFH Urteil vom 22.08.2019 - V R 47/17 (veröffentlicht am 28.11.2019)
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