Als Nachhaltigkeitsmanager:innen stehen wir oft vor einer Frage, die komplexer ist, als sie auf den ersten Blick scheint: Was passiert, wenn ein Thema, das einst von zentraler Bedeutung war, nicht mehr auf der Wesentlichkeitsmatrix auftaucht? Die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) zwingt uns, unsere Wesentlichkeitsmatrix regelmäßig zu überdenken und anzupassen. Auch wenn wir sie erst vor zwei Jahren mit viel Mühe erstellt haben, könnte sie heute schon nicht mehr ganz konform sein. Die gesamte Nachhaltigkeitsszene scheint sich gerade im Wesentlichkeitsprozess zu befinden – und es wird spürbar, wie sehr dieser Prozess alle erfasst und fordert.
Der Weg zur Erstellung einer Wesentlichkeitsmatrix gemäß den ESRS beginnt mit einem tiefen Verständnis der „doppelten Wesentlichkeit“. Wir legen den Anwendungsbereich des Berichts fest, identifizieren relevante interne und externe Stakeholder und sammeln sowie analysieren Daten. Die Befragung der Stakeholder offenbart ihre Erwartungen und Prioritäten, während die Analyse externer Rahmenbedingungen Trends und Risiken aufzeigt. Die Themen werden bewertet, priorisiert und in einer zweidimensionalen Matrix grafisch dargestellt. Diese Matrix muss vom Management überprüft und regelmäßig aktualisiert werden, um neuen Entwicklungen gerecht zu werden.
Doch genau hier liegt der Knackpunkt: Trotz klarer Anreize, die Wesentlichkeitsmatrix übersichtlich zu halten, scheint die Anzahl der Themen immer weiterzuwachsen. Wo früher fünf bis sieben Themen dominierten, sind es heute oft zwölf bis sechzehn - so zumindest mein Eindruck. Diese Zunahme hat Auswirkungen auf die Praxis, insbesondere wenn es darum geht, bestimmte Themen wieder aus der Matrix zu entfernen. Die Entscheidung, ob ein Thema in der Matrix bleibt oder nicht, wird immer wichtiger. Jedes Mal, wenn ein Thema in die Matrix aufgenommen wird, löst es eine Kaskade von Prozessen, Datenströmen und Feedbackschleifen aus, die gemanagt werden müssen.
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„Weiche“ Themen oft auf der Abschussrampe
In meinen Gesprächen mit anderen Nachhaltigkeitsmanager:innen wurde deutlich, dass besonders die „weichen“ und emotionalen Themen in der Diskussion stehen. Diese Themen sind oft schwieriger zu quantifizieren und können - je nach Detaillierungsgrad und Gewichtung der Analyse - in der Matrix verbleiben oder nicht. Die Herausforderung besteht darin, dass diese emotionalen Themen, die früher von zentraler Bedeutung waren, durch neue Prioritäten verdrängt werden können.
Ein erwähnenswerter Aspekt ist das Risiko, das mit dem Weglassen ehemals wichtiger Themen verbunden ist. Vielleicht bemerkt nur ein kleiner Kreis von Leser:innen eine solche Veränderung, doch sobald ein relevanter Stakeholder diese Diskrepanz entdeckt, kann sie schnell zu einem Reputationsrisiko werden. Die Debatten, die sich daraus ergeben, können heftig sein, insbesondere wenn es sich um Themen handelt, die zuvor eine hohe Priorität hatten. Die emotionalen Reaktionen auf solche Veränderungen können ebenso stark sein wie die sachlichen Argumente, mit denen wir unsere Entscheidungen verteidigen.
Ich kann mir die hitzigen Diskussionen beim Mittagessen vorstellen: „Wie können die jetzt das Thema X als unwesentlich betrachten? Wie können sie Y höher bewerten?“ Während man versucht, mit Fakten und Daten zu argumentieren, tritt die emotionale Dimension in den Hintergrund. Dies erlebe ich oft in den Gesprächen mit Nachhaltigkeitsmanager:innen. Die Wesentlichkeitsmatrix wird als zu technisch, zu versteckt im Lagebericht oder einfach nicht interessant genug empfunden.
Dialog ist effektiver, als Themen unter den Tisch fallen zu lassen
Natürlich gibt es Strategien, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Einige erfahrene Kolleg:innen raten dazu, wichtige Themen unter einem anderen Thema zu subsumieren. Dies ist eine pragmatische Lösung, die jedoch ihre eigenen Herausforderungen mit sich bringt. Ein solcher Ansatz kann möglicherweise nicht alle Stakeholder zufriedenstellen, insbesondere wenn sie sehr detailorientiert sind. Meiner Meinung nach muss der Dialog über Veränderungen proaktiv und wohlüberlegt geführt werden, auch wenn er mühsam ist. Oft wird dieser Dialog aber vernachlässigt, weil man denkt: „Das merkt sowieso keiner“. Ich habe das auch schon gemacht und hatte Glück, aber auch wenig kritische Stakeholder.
Eine andere Möglichkeit ist, Themen, die nicht mehr in der Wesentlichkeitsmatrix auftauchen, über andere Kommunikationskanäle weiter zu bearbeiten. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob dies nicht an Greenwashing grenzt. „Wir finden das Thema wichtig, aber nicht so wichtig für die Matrix“ - das kann schnell als Versuch gewertet werden, den Schein zu wahren, ohne wirkliche Relevanz zu zeigen.
Der Wesentlichkeitsprozess ist komplexer und technischer geworden und die Bandbreite der Themen hat zugenommen. Einige Themen sind nicht mehr wesentlich, andere wurden aus guten Gründen priorisiert. Dies führt zu einem Drahtseilakt, bei dem wir alle Aspekte sorgfältig abwägen müssen.
Mein Rat an alle Nachhaltigkeitsverantwortlichen lautet: Macht einen Reputations- und Emotionscheck. Geht proaktiv auf die relevanten Stakeholder zu, auch wenn der Aufwand hoch sein mag. Das zahlt sich langfristig oft aus - und hilft, die Balance zwischen fachlicher Präzision und emotionaler Relevanz zu halten.
Ich bin gespannt, wie ihr mit den Themen umgeht, die nicht (mehr) wesentlich sind.
Euer
Alex Kraemer
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