Ambidextrie: Chancen und Risiken für die Gesundheit im Unternehmen
Allgemein bedeutet der Begriff Ambidextrie Beidhändigkeit, also die gleich ausgebildete Geschicklichkeit beider Hände. Das Konzept der Ambidextrie wurde in der Wirtschaftslehre bereits in den 70er Jahren entwickelt, hat aber erst in den vergangenen 20 Jahren in der Unternehmenswelt so richtig an Popularität gewonnen. Mit Ambidextrie wird in modernen Unternehmen der Versuch unternommen, dynamische Agilität (d.h. schnelle Anpassung an neue Anforderungen) und die Fortführung des konventionellen und „konservativen“ Kerngeschäfts sinnvoll und erfolgreich zu verbinden, ohne dass dabei ein Geschäftsmodell das andere dominiert oder seinen Erfolg einschränkt.
Agilität in Unternehmen – Basis für Ambidextrie
Die Managementphilosophie der Agilität nahm seinen Ausgang in der IT-Branche und dominierte schnell die Branchen und Unternehmen der New Economy, wo man mit konventionellen Arbeitsprozessen nicht mehr erfolgreich sein konnte und daher eine radikalere Abkehr von bisherigen Denkweisen notwendig wurde. Zentrale Elemente agiler Unternehmensstrategie sind flexibles Handeln und Denken in kurzen Entwicklungsetappen, ständige Evaluation aller Betriebsprozesse, Lernen aus Misserfolgen, schneller Aufbau neuen Wissens und Kompetenzen sowie enge Vernetzungen mit anderen Akteuren, wenn davon Nutzen für das eigene Unternehmen entstehen könnte.
Was ist Ambidextrie?
Neue Agilität und eher konventionelle Unternehmensführung werden in der Sprache der Ambidextrie mit den Begriffen „Exploration“ und „Exploitation“ bezeichnet. Exploitation „beutet“ im wörtlichen und übertragenen Sinne bestehendes Wissen und Erfolgsmuster aus, um daraus kurzfristigen Profit zu erzielen. Exploration hingegen ermöglicht die Verbesserung des Kerngeschäfts, vor allem aber die Entwicklung ganz neuer Geschäftsfelder und Produkte. Mit der Ambidextrie-Strategie wird der Versuch unternommen, die oft von Unternehmen gemachten Fehler einer „einseitigen“ Betriebsführung – sei es mit Fokus nur auf Exploration, sei es nur auf Exploitation - durch ein Gleichgewicht der beiden Methoden zu vermeiden.
Wenn Unternehmen sich nämlich nur auf den Ausbau des bisherigen Kerngeschäfts konzentrieren und gleichzeitig keine neuen Geschäftsfelder erschließen oder neue Technologien entwickeln, entsteht zwar kurzfristig teilweise großer Gewinn, mittel- und langfristig steigt aber das Risiko, dass das bestehende Geschäft durch neue Technologien, Produkte oder Kundenerwartungen wegzubrechen droht. Wenn Unternehmen dagegen Exploration zu stark betonen, kann die Gefahr bestehen, dass die Innovationen nicht gewinnbringend zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell ausgebaut werden können.
BGM und Ambidextrie
Die Ergänzung des traditionellen Geschäftsbereichs durch ein agil operierendes Geschäftsfeld bzw. durch die Einführung agiler Arbeitsorganisationen kann auch in bislang traditionell geführten Kerngeschäftsbereichen einen wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit der Beschäftigten und damit das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) haben. Zum Beispiel die Bildung von relativ selbständigen „Kompetenz-Teams“, welche die bisherigen untergeordnete Arbeitsbereiche in einer hierarchischen „Top-Down-Führung“ ablösten.
Die in diesen agilen Teams organisierten Beschäftigten werden aufgrund der benötigten Fachkompetenzen gebildet und führen sich daher mehr oder weniger selbst, zumindest aber mit viel weniger Einflussnahme durch das Top-Management als zuvor. Die Team-Mitarbeitenden verfügen daher über viel mehr eigenen Handlungsspielraum, Entscheidungskompetenz sowie Partizipationsmöglichkeiten. Sie sind aber deshalb auch bezüglich ihrer Selbstmanagementfähigkeiten besonders gefordert.
Chancen und Risiken von Ambidextrie
Ambidextrie bietet Chancen, aber auch Risiken hinsichtlich der Gesundheit der Beschäftigten. Die Chancen für das Gesundheitsmanagement im Unternehmen: Gesundheit ist nicht mehr von oben „fremdgesteuert“, sondern liegt in den Händen der Beschäftigten, die das Thema ganz nach ihren individuellen Bedürfnissen und Anforderungen gestalten können. Im Rahmen des Selbstmanagements kann jeder Mitarbeitende selbst herausfinden und entscheiden, welche Gesundheitsmaßnahmen am besten passen.
Das Risiko: Mit dem steigenden Selbstmanagement übernehmen die Beschäftigten vermehrt die Verantwortung für ihre Gesundheit. Dabei besteht die Gefahr, dass belastende Faktoren des Arbeitsumfelds wie ansteigender Zeitdruck, Arbeitsintensität und dadurch ausgelöster Stress von den Beschäftigten primär als individuelle Unzulänglichkeiten empfunden werden, nicht als Folge von ungünstigen Arbeitsbedingungen. Diese könnten die Betroffenen dazu verleiten, durch noch intensiveres Zeit- und Selbstmanagement die vermeintlichen eigenen Fehler zu kompensieren, was wiederum zu noch mehr (selbst erzeugtem) Stress für die Betroffenen führt.
Gefährdungsbeurteilungen im Betrieb (vor allem auch psychische Gefährdungsanalysen), die ständige Überprüfung der Arbeitsorganisation auf potenzielle Stressoren durch die Geschäftsleitungen sowie das betriebliche Therapieangebote müssen die durch Agilität ausgelösten Selbstmanagementprozesse in den Belegschaften ergänzen und Fehlentwicklungen kompensieren.
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