Digital Health: Erkenntnisse aus der Corona-Zeit für digitale Gesundheitsanwendungen
Die Haufe Redaktion sprach mit dem Digital-Health-Experten, Buchautor und Key Note Speaker Jörg Schiemann über die beschleunigte Verschmelzung von analogem und digitalem Gesundheitswesen sowie seine Erkenntnisse aus der Corona-Krise.
Digital Health: Vorteile und Risiken
Was haben wir in der Corona-Zeit über digitale Unterstützung für unser Gesundheitssystem gelernt?
Zuerst einmal würde ich betonen, dass wir – in gewissem Sinne erst durch Corona – auf die zahlreichen Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen aufmerksam wurden. Durch die Nutzung diverser Angebote haben wir die Vorteile kennen- und die Nutzung schätzen gelernt. Das wäre ohne Corona mit Sicherheit nicht so intensiv erfolgt oder hätte viel länger gedauert. Ende 2017 nutzten zum Beispiel nur knapp 2% der Ärzte eine Videosprechstunde, heute bietet jeder zweite Arzt diese Möglichkeit an . Dabei liegen die Vorteile klar auf der Hand und sind nicht nur für den Umgang mit COVID-19 sinnvoll.
Bevor sich Patienten in Arztpraxen/Notfallaufnahmen begeben, macht es bei Krankheiten mit hoher Ansteckungsgefahr oft Sinn, zur Abklärung von Symptomen und der Besprechung weiterer Schritte eine Videosprechstunde vorzuschalten. So werden nicht nur die behandelnden Ärzte, sondern auch andere Patienten in den Wartezimmern geschützt.
Das gilt auch für den Arbeitsplatz. Wer kennt sie nicht, die Kollegen, die sich hustend und schnupfend zur Arbeit schleppen und dann sagen, „heute habe ich keinen Arzttermin mehr bekommen, aber gleich morgen früh gehe ich hin“? Einige Anbieter von Videosprechstunden vermitteln den Patienten bei der Einwahl beispielsweise an den bundesweit nächsten freien Arzt, Wartezeiten von höchstens 15 Minuten werden garantiert. So kann die Hürde des Arztbesuches gesenkt werden, der kranke Kollege kann kurzfristig mit einem Arzt sprechen und die Ansteckungsgefahr im Büro wird reduziert.
Gerade zu Beginn der Pandemie war eines der größten Probleme sicherlich die Unwissenheit über den sich ausbreitenden Virus. Fehlendes Wissen und die Angst vor einer Erkrankung führten dazu, dass viele Menschen gleichzeitig nach Antworten suchten. So waren in kurzer Zeit die Auskunft gebenden Stellen von der Masse der Anfragen überfordert, was zu langen Wartezeiten und besetzten Telefonleitungen führte, was wiederum die behandelnden Ärzte von wichtigeren Aufgaben abhielt.
Eine Lösung für solche Problemstellungen waren und sind Chatbots, wie zum Beispiel der GutenBot von der Universitätsmedizin Mainz. Der Vorteil eines Chatbot ist das quasi unbeschränkt parallel zur Verfügung gestellte Wissen und die gleichzeitige Beantwortung von Fragen, die Nutzer im Dialog über das Internet stellen können. Anders als der Engpass menschlicher Ansprechpartner kann ein Chatbot beliebig oft und gleichzeitig gestartet werden und aktiv sein. So können Spitzen von Anfragen in Zeiten von Pandemien abgefangen und Fragen beantwortet bzw. Ängste reduziert werden.
Gleichwohl muss man natürlich auch die Risiken betrachten. Neben der komplexen Frage des Datenschutzes gilt es, Missbrauch digitaler Angebote zu verhindern. So gibt es Anbieter, die nur über die Beantwortung eines Fragebogens auf ihrer Internetseite Arbeitnehmern einen „AU-Schein“ ausstellen (Arbeitsunfähigkeit). In einem solchen Prozess kann Missbrauch gar nicht ausgeschlossen werden. Als Folge ist auch zumindest die Anzahl der AU-Scheine für einen Nutzer pro Jahr begrenzt.
Anwendungsmöglichkeiten von Digital Health
Welche konkreten Anwendungsfälle könnte man sich aus der Verzahnung von digitalen und „realen“ Gesundheitsdienstleistungen vorstellen?
Das fängt schon bei der eben zitierten Videosprechstunde an. Mit einer Vermittlung von bundesweit verfügbaren freien Kapazitäten können, zugegebenermaßen unter Verlust des zwischenmenschlichen und physischen Kontakts, Wartezeiten reduziert werden. Dieser Service soll und kann nicht den Arztbesuch insgesamt ersetzen, sondern die Dringlichkeit und notwendigen nächsten Schritte einschätzen helfen – dies kann dann in der Folge zu einem Besuch in einer Praxis führen. Gerade bei Fachärzten mit langen Wartezeiten kann der Patient entscheiden, ob ihm eine erste schnelle Unterstützung wichtiger ist, die dann per Video erfolgt, oder er länger auf einen Termin vor Ort in der Praxis warten möchte.
Patienten mit einer chronischen Erkrankung haben gelernt, dass sie „sinnlose“ Wartezeiten in Arztpraxen vermeiden können und sollten. Ein reduziertes Immunsystem ist unnötigen Gefahren ausgesetzt, wenn man die Praxis lediglich aufsucht, um ein Rezept zu besorgen. Hier kann der Medikamentenbezug durch die Digitalisierung inklusive einer Bestellung und Lieferung nach Haus durch eine Apotheke deutlich vereinfacht werden.
Weiterhin hoffe ich, dass Ärzte, die während der Corona-Pandemie mit ihren Patienten über Video/Telefon Kontakt hielten und diese betreut haben, diese Art der Kooperation fortsetzen. So können Daten, die Patienten zu Hause sammeln, für eine verbesserte Betreuung verwendet werden. Auch wenn die Daten von Wearables oder beispielsweise zu Hause gemessenen Blutdruckwerten nicht die gleiche Qualität wie Messungen in der Praxis haben, können sie wertvolle Hinweise zur Behandlung geben. Viele engagierte Patienten sammeln ohnehin ihre Vitalwerte. Aber noch fehlt es an geeigneten Schnittstellen, um den Ärzten die Daten zur Verfügung zu stellen. Ich hoffe, dass die elektronische Gesundheitsakte mit ihrer Einführung 2021 eine Erleichterung der Kommunikation und des sicheren Datenaustauschs zwischen Arzt und Patient schafft.
Ein weiteres gutes Beispiel sind auch alarmierende Messungen, wie beispielsweise EKG-Auswertungen von Wearables wie der Apple Watch, die – bei aller möglichen Kritik – zumindest als Auslöser von Untersuchungen durch Spezialisten oder Messungen durch medizinisches Fachpersonal genutzt werden sollten.
Corona und Digital Health
Was sagen Sie zu den digitalen Angeboten, die speziell rund um Corona entstanden sind?
Auch wenn die erste Welle der COVID-19 Erkrankungen vorbei ist, so wird uns das Virus wahrscheinlich noch länger beschäftigen. Im Zentrum der Bemühungen steht deshalb die Verhinderung einer zweiten Welle mit all ihren möglichen Auswirkungen und erneuten Gegenmaßnahmen wie einem Lockdown.
Ein dabei sehr wichtiger Schritt ist die schnelle Identifikation von Infektionsketten und deren Durchbrechen. Dies wird durch die Mitte Juni veröffentlichte Corona-Warn-App geleistet beziehungsweise unterstützt. Wichtig ist dabei zu wissen, dass man sich mit der Nutzung nicht primär selber, sondern, wie auch mit dem Mund-Nasen-Schutz beispielsweise, im Wesentlichen andere schützt. Natürlich kann eine App keine Infektion verhindern. Aber sie kann, wenn man sie verwendet wie angedacht, uns rechtzeitig informieren, dass wir Kontakt mit einem Infizierten hatten und verhindern, dass man unnötig weitere Menschen ansteckt.
Um ausgebrochene Infektionen schnell zu erkennen und adäquat zu behandeln, fehlen uns bislang immer noch genügend Merkmale und Daten. Hier können digitale Mittel genutzt werden, um die Forscher – auch bei Tests zur Entwicklung eines Impfstoffes – zu unterstützen. So verwende ich die Datenspende-App des Robert Koch-Instituts, um meine Daten an die Forschung weiterzugeben. Hier gilt eindeutig, „die Masse macht’s“ und wenn meine Vitaldaten im Kampf gegen COVID-19 helfen können, dann bin ich gerne dazu bereit, diese pseudonymisiert zu spenden.
Digital Health im Arbeitsumfeld und Datenschutz
Welche Effekte ergeben sich perspektivisch für den Themenkomplex Digital + Gesundheit + Arbeiten?
Durch die zahlreichen Möglichkeiten der Digitalisierung werden auch die Aktivitäten im Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) zunehmend von digitalen Plattformen, Gesundheits-Apps, aber auch Wearables unterstützt werden.
Insbesondere der Informationsaustausch zwischen Mitarbeitern des Unternehmens und denen im Unternehmen, die im BGM tätig sind, wird davon profitieren. Einfachere Kommunikation zwischen Betriebsarzt und Mitarbeiter, Standort-unabhängig und zeitlich weniger eingeschränkt, ist dabei ein Kernpunkt. So müssen sich Mitarbeiter nicht mehr bis zur Betriebsarzt-Sprechstunde am Standort gedulden, sondern können schneller und z. B. auch auf Dienstreisen Kontakt aufnehmen.
Ein wichtiger Aspekt kann aus meiner Sicht auch die Unterstützung von Mitarbeitern mit einer chronischen Erkrankung sein. Wertvolle Tipps und Hilfe zum Umgang mit ihrer Krankheit können die Erkrankten insbesondere auch von Kollegen mit der gleichen Krankheit bekommen. Wenn sich beispielsweise Migräne-Patienten untereinander austauschen, wie sie mit Anfällen bei der Arbeit umgehen und welche Maßnahmen helfen, so kann neben den Vorteilen für den Einzelnen auch das Unternehmen durch motiviertere Mitarbeiter und einen reduzierten Krankenstand profitieren.
Dazu tragen im Übrigen auch Gesundheits-Apps bei, die der medizinische Dienst Mitarbeitern explizit als Hilfsmittel empfehlen kann. Apps zur Buchführung über Krankheiten, zum Beispiel Migräneanfälle, um mögliche Auslöser bei der Arbeit zu identifizieren, oder erste Behandlungsansätze, wie Meditationen in Pausen und Ruhephasen, können den Betroffenen als kurzfristige Selbsthilfe Abhilfe schaffen.
Gesundheits-Apps bieten zahlreiche Möglichkeiten, die noch nicht annähernd ausgeschöpft sind: So können diese smarten Helfer benutzt werden, Sitzpositionen am Bildschirm in Bezug auf Rückenprobleme auszuwerten oder Tipps für eine gesunde Ernährung geben. Wie wäre es beispielsweise mit einer mit der Kantine gekoppelten App, die den Mitarbeitern nicht nur die Speisenauswahl der Kantine als pdf-Datei, sondern für die Buchführung von Kalorien und anderen Werte in ihrer persönlichen App die Nährwerte des Speiseplans bereitstellt und gleichzeitig Allergiker vor kritischen Zutaten warnt?
Apps können auch helfen, an die im Stress am Arbeitsplatz oft vernachlässigte Flüssigkeitsaufnahme zu erinnern oder Schlafdefizite zu erkennen und vor dadurch entstehenden Verletzungsgefahren beim Führen von Fahrzeugen oder Bedienen von Maschinen zu warnen.
Die Möglichkeiten und Perspektiven sind unglaublich vielfältig und können hier gar nicht umfassend beschrieben werden. Fast täglich kommen Apps mit neuen Ideen und Ansätzen auf den Markt. Es wird spannend sein zu beobachten, welche Ansätze sich durchsetzen. Wir stehen erst ganz am Anfang dieser Entwicklung.
Ein sehr wichtiges Thema für die Umsetzung digitaler Gesundheits-Anwendungen ist freilich die Einhaltung von Datensicherheit und Datenschutz. Beides hat in Deutschland traditionell einen sehr hohen Stellenwert. Dazu gibt es kaum einen sensibleren Bereich als unsere Gesundheitsdaten. Im Kontext von digitalen Lösungen ist es deshalb auch sehr wichtig, die Nutzer offen und transparent zu informieren, was mit ihren Daten passiert, wo diese gespeichert werden und wer Zugriff darauf hat. Das fordert im Übrigen auch der Gesetzgeber und die Unternehmen sind hier in der Pflicht, ihren Beitrag zu leisten.
So ist es bei der Veröffentlichung der Corona-Warn-App in vorbildlicher Weise geschehen. Die Deutsche Telekom und SAP haben sogar den Programmcode veröffentlicht, sodass der Chaos Computer Club sich lobend äußerte, dass die Entwicklung der deutschen Corona-App „vorbildlich gelaufen“ sei. Wenn ich mir aber anschaue, was in App Stores und Foren trotzdem für einen normalen Benutzer der Corona-Warn-App an falschen und verunsichernden Kommentaren geschrieben werden, dann kann ich nur den Kopf schütteln.
Im Bereich Digital Health dürfen wir uns deshalb auch nicht leichtfertig „ins Bockshorn jagen lassen“. Die Vorteile für die Gesundheit sind bei vielen Lösungen so überzeugend, dass wir es uns aus (noch dazu faktisch falschen) Datenschutzbedenken einfach nicht leisten können, sie nicht umzusetzen und anzuwenden.
Digital Health: Tipps zur Nutzung der smarten Gesundheitshelfer
Wie kamen Sie eigentlich dazu sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Ich bin als Diplom Informatiker seit 25 Jahren in der Software-Industrie tätig. Insofern kenne ich mich mit der Entwicklung von Software und Apps aus und die Möglichkeiten durch die Digitalisierung faszinieren mich. Seit über 20 Jahren leide ich an einer chronischen Nierenerkrankung, für die ich zum Beispiel regelmäßig meinen Blutdruck messen oder zahlreiche Tabletten nehmen muss.
Zum Management meiner Krankheit fing ich früh an, mir Gesundheits-Apps und smarte Geräte zu suchen, die mich beispielsweise an die Tabletten-Einnahme erinnern oder helfen, langfristige Tendenzen in meinen Blutdruckwerten zu erkennen.
Dabei stellte ich fest, dass es mit der Eingabe von Krankheiten in das Suchfeld eines App Store nicht getan ist und man nur einen Bruchteil an Treffern für mögliche unterstützende Gesundheits-Apps bekommt. So habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, auf www.meine-gesundheitshelfer.online über meine Erfahrungen zu berichten und Tipps rund um die Nutzung von smarten Gesundheitshelfern zu geben.
Mittlerweile habe ich zu diesem Thema, Digital Health aus Patientensicht, zwei Bücher geschrieben, veröffentliche Fachartikel und halte regelmäßig Vorträge in Krankenhäusern, an Hochschulen, auf Messen oder bei Unternehmen. Gerade die praktischen Erfahrungen aus Patientensicht werden oft nicht genügend berücksichtigt – im Positiven wie im Negativen.
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