Neuroleadership: Gesunde Führung durch positive „Gehirnaktivierung“
Die Forschungen zum Neuroleadership (wörtlich: „gehirngerechte“ oder kognitive Mitarbeiterführung) starteten bereits in den 50er Jahren. Im Zentrum des Interesses der Neurowissenschaft steht dabei, wie das Gehirn aktiviert werden muss, damit es bessere Leistungen vollbringen kann. Aber erst in den 80er Jahren begannen die neurobiologischen Erkenntnisse in internationalen Managementlehren langsam an Relevanz zu gewinnen.
Belohnungs- und Bedrohungssysteme
Grundlegend für das Neuroleadership ist (sehr vereinfacht) folgendes Prinzip: Das Gehirn verfügt sowohl über einen Belohnungs- als auch einen Bedrohungssystem. Wird das Belohnungssystem aktiviert, so führt dies zu einer positiven Reaktion in Richtung des Reizes, der diese Belohnung ausgelöst hat. Umgekehrt führt eine Aktivierung des Bedrohungssystems (auch Stresssystem genannt), beispielsweise durch Angst, bei der betreffenden Person oft zu einer „inneren Flucht“, die betreffende Person wendet sich dabei in der Folge von ihrem Umfeld immer weiter ab.
Das Neuroleadership macht sich diese neurobiologischen Erkenntnisse zunutze und entwickelt darauf aufbauend Strategien, das Belohnungssystem im Gehirn der Beschäftigten vor allem durch eine transparente, motivierende und faire Führung zu aktivieren.
Auswirkung auf die psychische Gesundheit
Welche Auswirkungen hat dieser Mechanismus auf die psychische Gesundheit? Jeder Mensch hat vier Grundbedürfnisse, die mehr oder weniger bewusst nach Bedürfnisbefriedigung streben. Hierzu zählen das Bedürfnis nach Bindung, nach Orientierung und Kontrolle, nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz sowie nach Lustgewinn. Eine dauerhafte Nichtbefriedigung (Inkonsistenz) führt zu einem wenig ausgeprägten Wohlbefinden, während deren Erfüllung (Konsistenz) zu stabiler psychischer Gesundheit, Wohlbefinden und damit auch Leistungsfähigkeit führt.
Sind nicht alle Bedürfnisse ausreichend befriedigt, spüren Menschen das in Form von innerer Unruhe, Nervosität, Unlust, Überforderung, Trauer und Angst. Jeder Mensch entwickelt aufgrund seiner psychischen Disposition eigene Strategien, um die eigenen Bedürfnisse (wieder) zu befriedigen. Er tut dies, indem er entweder Wege findet, Grundbedürfnisse zu erfüllen (Aktivierung des Belohnungssystems) oder indem er eine (weitere) Verletzung vermeidet (Aktivierung des Bedrohungssystems). Wird das Bedrohungssystem aktiviert, sind rationale Kommunikation und gute Zusammenarbeit mit den Kollegen nur schwer möglich. Werden dagegen die Bedürfnisse durch die Aktivierung des Belohnungssystems erfüllt, können Menschen kooperieren und vertrauensvoll und konstruktiv miteinander umgehen.
Jeder Mitarbeiter tickt anders
Die Vielfalt der individuellen Bewältigungsstrategien zur Kompensation von Inkonsistenz zeigen folgende Beispiele: Mitarbeiter mit wenigen (positiven) sozialen Kontakten im Betrieb weisen oftmals ein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Kontrolle auf. Ihre Wohlfühldefizite werden dadurch kompensiert, dass sie an bürokratischen Strukturen und Hierarchien zwanghaft festhalten. Ein entgegengesetztes Beispiel stellen Mitarbeiter dar, die über ihre Zukunft im Unternehmen im Unklaren sind und denen es daher an Orientierung und Zukunftsperspektive fehlt. Sie versuchen diesen Mangel oftmals durch Lustgewinn auf anderen Gebieten außerhalb der Arbeit zu kompensieren.
Aber egal wie der jeweilige Beschäftigte psychisch „gestrickt“ ist: Mit dem Neuroleadership soll niemand ausgeschlossen werden. Vielmehr geht um die Potenzialentfaltung eines jeden Mitarbeitenden ausgehend von seinen psychischen Strukturen, persönlichen Interessen sowie Stärken und Schwächen.
Neue Führungskultur
Das Neuroleadership steht damit auch für eine neue Führungskultur. Mitarbeitende sollen nicht länger als „Humanressourcen“, also als bloßes Mittel zum Zweck, betrachtet werden, sondern stehen mit ihren Bedürfnissen und Potenzialen im Mittelpunkt des Interesses der Unternehmensführung. Belastungen im Arbeitsleben sollen weiterhin nicht mehr nur durch materielle Belohnungen kompensiert werden, sondern zunehmend durch sogenannte „intrinsische“ Belohnungen wie Wertschätzung oder persönliche Erfüllung.
Die „neuen“ Führungskräfte haben dabei die Verantwortung, sich immer wieder zu fragen, was jeder einzelne Beschäftigte braucht, um seine Stärken am Arbeitsplatz vollständig zur Geltung bringen zu können. Dabei sei es laut Neurowissenschaftlern im Gegensatz zu vielen anderen Führungsstrategien gleichgültig, ob die Führungskraft oder aber die Beschäftigten selbst von diesen Strategien überzeugt sind oder nicht: Das Belohnungs- und Bedrohungssystem im menschlichen Gehirn funktioniere aufgrund der neurobiologischen Gesetzmäßigkeiten unbewusst, kontinuierlich und daher zuverlässig.
Umsetzung des Neuroleaderships
Aufgrund dieser persönlichen Strategien ist es im Neuroleadership besonders wichtig, die spezifische Individualität der einzelnen Beschäftigten zu analysieren und wertzuschätzen. Konkret bedeutet dies, dass Führungskräfte die Bedürfnisse der Mitarbeiter in einem ersten Schritt identifizieren und verstehen müssen, um diese Bedürfnisse dann im darauffolgenden Schritt durch entsprechende organisatorische und personalwirtschaftliche Instrumente zu erfüllen. Ein bei Managern und Führungskräften angewandtes Verfahren ist dabei das AKTIV-Modell, das in folgenden Schritten vorgeht:
Analyse: Der IST-Zustand der Grundbedürfnisse der Beschäftigten werden ermittelt und dem SOLL-Zustand gegenübergestellt. Hierzu werden sogenannte „Konsistenzprofile“ (was sind die Grundbedürfnisse der Person?) der einzelnen Mitarbeitenden erstellt.
Kategorisierung (Transformation): Die Konsistenzprofile der Beschäftigten werden in verschiedene „GO-Typen“ (aktiver und positiv eingestellte Personen) oder „NO-Typen“ (negativ eingestellte Personentypen) eingeteilt.
Strategieformulierung (Inkonsistenzvermeidung): Für die einzelnen GO- und NO-Typen werden spezifische Verfahren konzipiert, um diese positiv zu aktivieren bzw. deren ohnehin schon positive Grundeinstellung weiter zu auszubauen.
Mitarbeitervereinbarung: Zwischen der Führungskraft und den einzelnen Beschäftigten werden Vereinbarungen getroffen. Dabei werden die ausgewählten motivierenden und positiv aktivierenden Veränderungen besprochen und Zielvereinbarungen (auch zur Leistungserbringung) festgelegt.
Tipps für die positive Aktivierung
Gegenüber konventionellen Kontrollsystemen will das Neuroleadership die Beschäftigten dabei unterstützen, ihre persönlichen Ressourcen ohne Zwang zu mobilisieren. Das in der Praxis oft verwendete SCARF-Modell identifiziert dabei fünf Faktoren (Status, Sicherheit, Autonomie, Verbundenheit, Fairness), mit deren Hilfe es gelingen kann, den Belohnungs- bzw. Bedrohungsmechanismus zu beeinflussen:
Status: Das Bedürfnis, im Vergleich zu anderen Menschen bedeutsam zu sein. Führungskräfte sollten daher ihren Mitarbeitenden viel positives Feedback, Lob und Anerkennung geben.
Certainty (Sicherheit): Das Bedürfnis zu wissen, was die Zukunft bringt. Führungskräfte sollten daher für viel Transparenz hinsichtlich der geschäftlichen Lage des Unternehmens sowie der kurz- und mittelfristigen Karrierechancen des Beschäftigten sorgen.
Autonomy (Autonomie): Das Bedürfnis, Kontrolle über die Umwelt ausüben zu können bzw. die Wahl zwischen Alternativen zu haben. Führungskräfte sollten ihre Beschäftigten in möglichst viele Entscheidungsprozesse einbinden und ihnen Mitspracherechte einräumen. Bei der Ausübung von Tätigkeiten sollte den Mitarbeitenden größere Freiräume gegeben werden.
Relatedness (Verbundenheit): Das Bedürfnis, sich mit anderen Menschen verbunden zu fühlen bzw. sich mit dem Unternehmen/Arbeitgeber zu identifizieren. Führungskräfte sollten möglichst viele Teambuildingprozesse im Unternehmen etablieren.
Fairness: Das Bedürfnis, selbst genauso wie die anderen behandelt zu werden. Führungskräfte sollten für gleiche Chancen sorgen und nicht bestimmte Beschäftigte bevorzugen.
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