Der weite Weg bis zur vollautomatisierten Baustelle
Die Frage, warum auf Baustellen Roboter bisher wenig zu finden sind beziehungsweise vor allem in der seriellen Vorfertigung zum Einsatz kommen, ist einfach zu beantworten: es ist die Komplexität der Anforderungen. Während in der Industrie mit stationären Lösungen gearbeitet werden kann, ist im Bausektor an sehr vielen Stellen Mobilität und Flexibilität gefragt.
Die Technik kommt überwiegend vor Ort zum Einsatz, jede Baustelle hat andere Rahmenbedingungen und keine kontrollierbare Fabrikumgebung. Die Anforderungen an die automatisierten Abläufe sind – losgelöst vom Bauobjekt und verwendeten Materialien – dynamisch, das heißt abhängig von Faktoren wie Bodenbeschaffenheit, Größe der Arbeitsflächen, Wetterbedingungen oder die Intensität des Zusammenspiels mit Fachkräften auf der Baustelle.
Dynamik auf der Baustelle als Herausforderung
Die Experten für die Automatisierung am Bau in der Wissenschaft sind sich in ihren Einschätzungen weitgehend einig: Die Automatisierung wird in den nächsten Jahren einen Boom erleben, weil die Digitalisierung sowohl bei der Planung als auch bei den eingesetzten Geräten stark zunehmen wird. Die Roboter können sich dank verbesserter Sensoren, Scanner, Kameras und Bildverarbeitungsprogramme und Künstlicher Intelligenz in wechselhafter Umgebung immer besser zurechtfinden und damit anspruchsvolle Aufgaben übernehmen.
Die Einsatzmöglichkeiten werden als vielfältig angesehen. Dr. Thomas Kölzer, Senior Engineer am Institut für Digitales und Autonomes Bauen der Technischen Universität Hamburg, ist überzeugt, dass die Einsatzbreite perspektivisch vom Mauerroboter über sich autonom bewegende und arbeitende Baumaschinen, Exoskelette, das heißt von Baustellenarbeiter getragene Roboter, die bei verschiedenen Tätigkeiten unterstützen, bis zum Inspektionsroboter reichen wird.
Der Unterschied: Mobile und stationäre Systeme
Bei der Frage, wie es im Bausektor mit der Automation weitergeht, stehen in der Forschung zwei Richtungen im Fokus: stationäre und mobile Systeme. Für stationäre Systeme ist kennzeichnend, dass sie, wie ein Industrieroboter, auf der Baustelle aufgestellt werden und dort vordefinierte Abläufe ausführen. Für diese Systeme gilt: Sie werden mittelfristig – wenn aus den aktuellen Forschungen erste kommerzielle Anwendungen werden – auf den Baustellen zu finden sein. Ihr Plus: Sie sind bestens für die Ausführung monotoner und körperlich anstrengender Tätigkeiten geeignet, beispielsweise im Fassadenbau oder bei Wänden oder im Bauabfallrecycling, um Abfallstoffe zu sortieren.
Noch weiter entfernt von der Praxiskompatibilität sind die mobilen Systeme, die sich an wechselnde Einsatzbedingungen anpassen und sich auf der Baustelle bewegen, um wechselnde Aufgaben zu übernehmen. Hier sind erste Anwendungen, dass Baufortschritte überwacht, Materialien, Anlagen und Ausrüstungen transportiert oder einfache Bautätigkeiten ausgeführt werden. Diese Systeme sind etwa Gerüst-Roboter zum Transport schwerer Teile, Fassaden-Roboter, die Gebäude mit Fenstern bestücken oder Bohr-Roboter, die Bohrungen für Installationen im Bereich Heizung, Klima und Lüftung vornehmen.
Effizienzpotenzial gegen Fachkräftemangel
Die Potenziale, die alle Formen der Automation mit sich bringen, sind unter Experten und in der Branche unumstritten. Sami Atiya, Robotik-Chef des global agierenden Technologie-Unternehmens ABB, das mehr als 11.000 Mitarbeitende an über 100 Standorten in mehr als 53 Ländern im Bereich Robotik und Fertigungsautomatik beschäftigt, hat es kürzlich in einem Fachgespräch so formuliert: "Wer mit geschulten Augen über eine Baustelle geht, sieht das enorme Effizienzpotenzial." Gemeint ist damit nicht nur die Zeit- und Kostenersparnis, sondern auch der Aspekt der heute noch in großer Zahl erforderlichen Fachkräfte auf einer Baustelle.
ABB hatte per Umfrage unter 1900 befragten Bauunternehmen in Europa, den USA und China im April und Mai 2021 durch das Institut 3Gem Global Market Research & Insights ermitteln lassen, dass 91 Prozent der Firmen in den kommenden zehn Jahren mit einem Mangel an Fachkräften rechnen. Roboter und Maschinen könnten Arbeiten autonom übernehmen – seien es Abrissarbeiten oder der Transport von Materialien. Analysen der ABB-Experten sehen für die robotergestützte Automatisierung in der Baubranche in den nächsten zehn Jahre hohe zweistellige Wachstumsraten, insbesondere im Fertigteilbau und 3D-Druck.
Digitalisierte Objektdaten als Voraussetzung
Weltweit kommen Roboter beziehungsweise autonome Maschinen immer mehr zum Einsatz. So hat im australischen Perth ein Roboter, der wie ein Autokran aussieht, die Wände einer Kindertagesstätte mit Blöcken aus Porenbeton hochgezogen – und das in 57 Stunden, was selbst die besten Maurer nicht geschafft hätten. Bei dem Projekt in Perth wird deutlich, warum weitere Entwicklungsschritte zu erwarten sind: Der Roboter greift auf die Daten von 3D-Bauplänen zurück und ermittelt so die korrekte Position der Ziegel und schneidet sie bei Bedarf auch mit höchster Präzision ohne menschliches Eingreifen oder Mithilfe zu.
Ein anderes Beispiel ist ein semi-autonomer Baustellenroboter für Deckenbohrungen, den die Firma Hilti entwickelt hat. Der Werkzeughersteller lässt seinen "Jaibot" per Fernsteuerung über die Baustelle navigieren. Er identifiziert dann die Bohraufträge in seiner Reichweite, führt sie automatisch aus und markiert sie farblich für die verschiedenen Gewerke. Julia Zanona, Produktmanagerin für den Bereich Robotics bei Hilti, sagt dazu: "Wir haben uns angesehen, welche Routinearbeiten auf der Baustelle zu den belastendsten gehören, und das sind in erster Linie die Überkopfarbeiten." Um die Löcher passgenau an den richtigen Stellen in der erforderlichen Größe und Tiefe zu bohren, nutzt "Jaibot" die Daten des Building Information Modeling, kurz BIM. BIM fasst alle Werkpläne, die zeitliche Abfolge der Arbeiten der verschiedenen Gewerke und die Informationen über Materialien in einer Datenbank kontinuierlich aktualisiert zusammen und liefert so die Grundlagen für die Ausführung der Bauaufträge.
Fahrzeuge und Roboterhunde bereits Realität
Keine Zukunftsmusik mehr sind auch autonome Baufahrzeuge, die Aushubarbeiten exakt, GPS-gesteuert und ohne menschliche Unterstützung ausführen, oder autonome Inspektionsroboter. So ist zunächst auf einer Baustelle in den USA der erste Roboterhund "Spot" eingesetzt worden.
Spot ist mit einem 3D-Scanner ausgestattet und läuft die Baustelle ab. Er dokumentiert den Baufortschritt und liefert digitale Informationen, mit denen Soll-Planung und Ist-Ausführung abgeglichen werden. "Spot" hat zwischenzeitlich auch den Sprung nach Deutschland geschafft. Ende August 2022 kündigte Drees & Sommer aus Stuttgart an, mit seinem Baumanagement- und Digitalisierungsexperten in einem Forschungsprojekt den vom US-amerikanischen Robotikunternehmen Boston Dynamics entwickelt vierbeinigen Helfer bei der Baustellenkontrolle zu testen. "Spot" werde alle baulichen Veränderungen aufnehmen und speichern.
Humanoide Roboter sehen aus wie ein Mensch
Die Fähigkeiten, die Roboter in der Zukunft übernehmen könnten, sind denen des Menschen sehr ähnlich. Eine japanische Konstruktion des National Institute of Advanced Industrial Science and Technology (AIST) ist in der Lage, Gipsplatten zu montieren. Der entwickelte Roboter ist 1,81 Meter groß, wiegt gut 100 Kilogramm und ist mit Hilfe Künstlicher Intelligenz in der Lage, sich in fremder Umgebung zurechtzufinden und vor Ort autonom Bauarbeiten auszuführen. Der Roboter trägt eine Trockenbauplatte zu einer Konstruktion, passt sie ein und verschraubt sie. Der Prototyp HRP-5P soll – so ist das Ziel des Tokioer Instituts - als Entwicklungsplattform dienen, um damit dann mit Partner aus der Wirtschaft "Arbeitskräfte" für eine digitale Baustelle zu schaffen.
Schnittstelle für durchlässige Daten erforderlich
Mit Blick auf die weitere Entwicklung auf Baustellen wird es darauf ankommen, dass es immer besser gelingt, alle für eine Baustelle und durch die jeweiligen eingesetzten Geräte vorhandenen Daten per Schnittstellen für die Roboter und Maschinen nutzbar zu machen.
Idealerweise ergibt sich von der Planung bis zur Fertigstellung eines Baus eine durchgängig digitale Prozesskette. Forscherteams weltweit arbeiten derzeit an der Entwicklung solcher Schnittstellen, beispielsweise auch am Fraunhofer Italia Innovation Engineering Center in Bozen. Dort forscht man mit der Roboter-Trägerplattform Husky A200, die auf breiten Profilreifen unterwegs ist und dank eingebauter Laser- und Neigungssensoren in der Lage ist, daran, auf unwegsamem Gelände zurecht zu kommen.
Michael Terzer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Projekt: "Ein Mensch kann intuitiv auf plötzliche Veränderungen in seiner Umgebung reagieren, der Roboter muss auf seine Sensor-Daten zurückgreifen." Beispielhaft führt er ein Loch im Boden an, das von vielen Umgebungs-Scan-Sensoren nicht erfasst werden könnte. In den Daten ist hinterlegt, dass dieses Loch, zum Beispiel ein Aufzugsschacht, an einem bestimmten Tag für Wartungsarbeiten geöffnet ist und umfahren werden muss, dann müssten solche Daten über eine Schnittstelle "zugeliefert" werden. Die Italiener haben diese Schnittstelle ROSBIM getauft – eine Kombination aus Robot Operating System, kurz ROS, und BIM.
Rechtliche Fragen ein Hindernis?
Wie wird sich die Robotik auf Baustellen weiterentwickeln? Eine Statistik, die die Struturae-Datenbank für Ingenierbauwerke veröffentlicht hat, unterstreicht die Notwendigkeit, dass die Bauwirtschaft neue technische Lösungen finden muss. Im zweiten Quartal 2020 waren über 200.000 Stellen für gering- und hochqualifizierte Arbeitskräfte in der Baubranche unbesetzt.
Bisher ist die Robotik weltweit über wissenschaftliche Projekte nur in Einzelfällen hinausgekommen. Neben den techischen Lösungen sind bis zum zum Alltagseinsatz auf der Baustelle viele weitere Fragen zu klären: Wie sind Roboter und Automationen aus Sicht der Gesundheits- und Sicherheitsgesetzgebung zu sehen? Wie wird die Sicherheit gewährleistet und geprüft? Wer übernimmt die Verantwortung, wenn ein autonomes Werkzeug einen Unfall mit Personenschäden verursacht? Kurzum: Bis die erste vollautomatische Baustelle zu finden sein wird, ist noch ein weiter Weg zu gehen.
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