Leben wir 2050 alle im nachhaltigen, kunststofffreien Haus?
Wegen der hohen Umweltbelastung durch Kunststoff, von der sogenannten Plastiksuppe in den Ozeanen bis hin zu Mikroplastik in der Nahrungskette, hat die Wohnungsbaugenossenschaft Accord aus Birmingham (Großbritannien), die zirka 13.000 Wohnungen im Bestand hat, nun damit begonnen, mit zwölf kunststofffreien Neubauhäusern zu experimentieren.
Das ist das große Ziel. Denn die Häuser der Zukunft müssen natürlich auch den Anforderungen an Bau- und Sicherheitsstandards und den Erfordernissen der Wohnungsbaugesellschaft sowie deren Mieter entsprechen, die komfortable und energieeffiziente Wohnungen wollen. Und nicht zuletzt soll das Haus erschwinglich sein.
100 Prozent kunststofffrei bis 2050: Ein revolutionärer Häusertyp
Das Vorhaben ist gar nicht so einfach: 100 Prozent kunststofffreie Häuser bis 2050? Der europäische Bausektor verwendet jährlich etwa zehn Millionen Tonnen Kunststoffe. Das ist ein Fünftel (20 Prozent) des gesamten europäischen Kunststoffverbrauchs. Zirka die Hälfte (50 Prozent) davon enden in Plastikrohren, die andere Hälfte landet in Isoliermaterialien, Rahmen und Kunststoffanwendungen: zum Beispiel in Steckdosen, Griffen und (Licht-) Schaltern. Obwohl Kunststoffe in Häusern erst seit relativ kurzer Zeit zum Einsatz kommen, finden sich brauchbare Alternativen oft nur nach langer Suche. Zu ersetzen wären alle Arten von Kunststoffen.
Der Entwurf von Accord kann als revolutionär gelten: Die Idee war nämlich, den Kunststoffanteil in dem Wohnkomplex mit drei Stockwerken, schrägem Dach und Gemeinschaftseingang drastisch zu senken und durch alternative Produkte zu ersetzen, die mindestens gleichwertig sein sollten. Gefragt waren nicht nur Innovationen, sondern auch Produkte und Materialien, die der Bau früher nutzte; bevor Plastik zum Allgemeingut wurde.
Man gründete eine interne Arbeitsgruppe, die mit bestehenden und neuen Lieferanten sowie der Universität Birmingham zusammenarbeitet. Besonders dabei ist, dass Accord über eine eigene Designabteilung und eine interne Gebäudefertigung verfügt: Das Werk "Local Homes" produziert modulare Holzhäuser industriell. Accord nutzt aber auch neue Kanäle, wie "Dragons' Den", ein Fernsehprogramm, in dem Erfinder Investoren für ihre Innovationen suchen, oder soziale Medien, um so andere und neue Parteien zu erreichen und zu inspirieren. Dabei analysiert Accord auch, wie sich die CO2-Emissionen im Bau abbauen ließen.
Vorentwurf der zirkulären Neubauten von Accord
Kunststofffreier Wohnungsbau: noch eine Kostenfrage
Carl Taylor und Tom Wraggs arbeiten bei Accord und sprechen bei einem Online-Treffen über das Projekt: "Soweit wir wissen, wurden in dieser Größenordnung noch keine kunststofffreien Häuser entwickelt", sagen sie. "Es gab mehrere Experimente, aber niemand in unserer Branche hat je richtig analysiert, wie man Häuser, einschließlich aller Einrichtungen, kunststofffrei bauen kann." Es ist, wie sie selbst sagen, "quite a challenge" (immer noch eine Herausforderung) – aber sie verbuchen erste Ergebnisse.
Bei der Entwicklung der zwölf neuen Häuser wollte Accord zunächst Küchen und Badezimmer vollständig kunststofffrei bauen. Der Grund: Küche und Bad werden im Lebenszyklus eines Hauses am häufigsten mehrfach ersetzt – hier lassen sich vor allem Decken, Farbe, Türgriffe, die Böden und Leitungen und größtenteils die Isolierung plastikfrei halten.
Einige Elemente beim Häuserbau können laut Taylor und Wraggs wegen des Brandschutzes oder wegen entgegenstehender Gesetze und fehlender Genehmigungen nicht ersetzt werden. Noch nicht. Accord schätzt jedoch, dass in den von ihnen gebauten Häusern schon zirka 85 Prozent weniger Kunststoff stecken als in einem regulären neuen Haus. Damit die Häuser den gleichen Komfort bieten wie "normale" Wohnungen, war bei dem Experiment der Bau allerdings teurer als bei regulären Genossenschaftswohnungen. "Wenn der Bausektor in größerem Umfang auf nachhaltige Alternativen umsteigt, sinken die Kosten", sind Taylor und Waggs sich einig.
Mit Kooperation zu einem nachhaltigen Bausektor in Europa
Accord will als Anbieter von Sozialwohnungen dazu beitragen, den Bausektor nachhaltiger zu gestalten. Die Wohnungsbaugenossenschaft kooperiert dafür mit verschiedenen Partnern und auch über das europäische Projekt Charm, das von der Technischen Universität (TU) Delft (Niederlande) an der Fakultät "Bauwesen" geleitet und von Interreg NWE mitfinanziert wird.
Vier Wohnungsbaugesellschaften aus den Niederlanden, Belgien, Großbritannien und Frankreich führen Demonstrationsprojekte durch, in denen mehrere zirkuläre Renovierungs- und Neubaustrategien umgesetzt werden. Die Strategien richten sich auf die Optimierung der (Wieder-) Verwendung von Materialien und Gebäudekomponenten sowie auf deren Demontagefähigkeit für eine künftige Wiederverwendung.
Die Genossenschaft Accord bringt Wissen ein und macht eine Bestandsaufnahme, welche Alternativprodukte für Kunststoffe der Markt anbietet. Die Briten selbst sehen sich durch den Markt immer wieder herausgefordert: So haben sie etwa noch keine erschwingliche Alternative zu den herkömmlichen, kunststoffumwickelten elektrischen Leitungen gefunden. Es gäbe zwar eine, aber die ist zu teuer. Charm ist ein europäisches Projekt. Die European Federation for Living (EFL) aus Amsterdam (Niederlande) ist bei Charm für die Kommunikation zuständig.
Nächste Herausforderung: "Das natürliche Haus"
In den Niederlanden laufen im Wohnungssektor mehrere Initiativen für innovative Lösungen, unter anderem für Isolierung und Heizung. Bei den sogenannten "Market Challenges" sind Marktteilnehmer gefordert, neue nachhaltige Produkte zu schaffen und gemeinsam mit den Wohnungskooperativen zu marktgängigen Produkten weiterzuentwickeln. Beispiele hierfür sind die Mitros-Isolierherausforderung und der Wärmeaustausch der Brabanter Lente-Corporaties.
Accord hofft, mit seiner Botschaft zunächst einmal mehr Unternehmen dazu zu bringen, auch über kunststofffreie Produkte nachzudenken und diese zu produzieren. Für das nächste Jahrzehnt steht die nächste Herausforderung bereits fest: In Glasgow (Schottland) soll das "Natural House" entstehen. Es beruht auf den Prinzipien des weltberühmten Architekten Frank Lloyd Wright und soll bei der Realisierung eines nachhaltigen, gesunden Wohnungsbestandes der nächste Schritt sein. 2050 werden wir wahrscheinlich (noch) nicht alle in einem völlig kunststofffreien Haus wohnen, aber – so die Annahme der Birminghamer – wir werden bis dahin im Bausektor in großem Umfang nachhaltige und erschwingliche Mietwohnungen ohne Plastik produzieren können. Häuser, die gut für Mensch und Natur sind.
Es geht aber auch andersherum. So gibt es etwa Häuser, die vollständig aus Kunststoff bestehen. In Nigeria wurden die ersten Häuser Afrikas komplett aus Plastikabfällen gebaut. Mit Erde gefüllte Plastikflaschen dienen als Alternative zu Ziegelsteinen. Weltweit gibt es noch mehr solcher Initiativen. Das Problem bleibt: Kunststoffe verschmutzen die Umwelt und gefährden potenziell den Naturkreislauf.
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