EuGH: Mehr als Urlaubsansprüche von Scheinselbstständigen

Vor Kurzem hat der EuGH eine Entscheidung zum Verfall von Urlaubsansprüchen bei Scheinselbstständigen getroffen. Das Verfahren könnte ein Fingerzeig für andere wichtige Fragen des deutschen Urlaubsrechts sein.

Nach Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) hat jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub. Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) auf ein Vorabentscheidungsverfahren aus Großbritannien (Urteil vom 29.11.217, Az. C-214/16 [King]) hat nun ein weiteres Risiko bei der Beschäftigung von Scheinselbständigen gezeigt.

Scheinselbständigkeit: Britisches Gericht legt EuGH Urlaubsfragen vor

Von Scheinselbständigen spricht man, wenn Personen als Selbständige auftreten und sich vielleicht auch so verstehen. Tatsächlich sind sie jedoch nach objektiver Rechtslage abhängig Beschäftigte. Wird im Nachhinein, zum Beispiel nach einer Betriebsprüfung, eine Scheinselbständigkeit festgestellt, droht zunächst die Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen. Nun hat der EuGH die Richtung vorgegeben, wie bei Scheinselbständigen mit den Urlaubsansprüchen für die Zeit der vergangenen Tätigkeit umzugehen ist.

Im Ausgangsfall ging es um einen vermeintlich selbständigen Verkäufer, der über 13 Jahre lang für ein Unternehmen auf Provisionsbasis tätig war. Weil er nach Eintritt in den Ruhestand für die Dauer der Beschäftigung unter anderem Urlaubsabgeltung verlangte, wollte das vorlegende Gericht daraufhin wissen,

  • ob ein Arbeitnehmer zunächst Urlaub nehmen muss, ohne zu wissen, ob er für diesen Urlaub Anspruch auf Bezahlung hat, und
  • ob bei Nichtgewährung von bezahltem Urlaub eine Übertragung zeitlich unbegrenzt erfolgt.

EuGH: Anspruch auf bezahlten Mindesturlaub

Die Beantwortung der ersten Frage durch den EuGH ist nicht überraschend. Aus Art. 31 Abs. 2  GRC ergibt sich in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/EG ein Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind der Anspruch auf Jahresurlaub und auf Zahlung des Urlaubsentgelts zwei Aspekte eines einzelnen Anspruchs.

Hieraus hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) bereits mit Entscheidung vom 10. Februar 2015 (Az. 9 AZR 455/13) hergeleitet, dass dem Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Inanspruchnahme des Urlaubs ein Anspruch auf Vergütung sicher sein muss. Der Arbeitnehmer sei in unzumutbarer Weise in seiner Urlaubsgestaltung eingeschränkt, wenn er bei Urlaubsantritt nicht weiß, ob ihm Urlaubsentgelt gezahlt werde.

Urlaubsübertragung: Keine zeitliche Grenze bei Scheinselbständigen

Interessanter ist die Antwort des EuGH zur zeitlichen Begrenzung der Übertragung, im konkreten Fall ging es schließlich um die Ansammlung von Urlaubsansprüchen für 13 Beschäftigungsjahre.

Hier ist die bisherige Rechtsprechung des EuGH zur Begrenzung der Urlaubsübertragung – in den Fällen, in denen ein Arbeitnehmer aus von seinem Willen unabhängigen Gründen, zum Beispiel bei Arbeitsunfähigkeit, nicht in der Lage war, seinen Urlaubsanspruch auszuüben – nicht anzuwenden. Die Urlaubsansprüche können daher bis Beendigung des Arbeitsverhältnisses übertragen und angesammelt werden.

Weitere Auswirkungen auf Urlaubsanspruch bei Kündigungen

Die Entscheidung des EuGH kann aber noch in einem anderen Bereich zu einer Änderung der Rechtsprechung des BAG führen. Kündigt nämlich ein Arbeitgeber, gehen auch bei einer Kündigungsschutzklage nach bisheriger Rechtsprechung des BAG die Urlaubsansprüche unter, wenn der Arbeitnehmer diese nicht geltend gemacht hat. Bisher muss der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis gekündigt wird, den Arbeitgeber im laufenden Kalenderjahr zur Urlaubserteilung auffordern.

Diese Rechtsprechung ist zu überdenken. Die Entscheidungen des BAG gehen davon aus, dass mit einer vorsorglichen Urlaubszuweisung durch den Arbeitgeber auch ohne Bezahlung der Anspruch auf Freistellung erfüllt wird. Dies genügt jedoch nach der neuen Entscheidung des EuGH nicht. Mit Ausspruch einer Kündigung nimmt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Möglichkeit auf Ausübung seines Rechts auf bezahlten Urlaub. Dies verbietet sich jedoch nach der Entscheidung des EuGH.

Urlaubsansprüche: Generalanwalt gibt Hinweis für deutsches Verfahren?

Wirft man einen Blick auf den der EuGH-Entscheidung vorausgehenden Schlussantrag des Generalanwalts Evgeni Tanchev vom 8. Juli 2017, findet man zudem Ausführungen, die für eine Vorlage des BAG von Bedeutung sind. In seinem Schlussantrag hat der Generalanwalt nämlich klargestellt (Rdnr. 97), dass Artikel 7 der Richtlinie 2003/88/EG den Arbeitgeber verpflichtet, dem Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu schaffen. Dies hat auch der EuGH in seiner Entscheidung betont (Rdnr. 41). 

Generalanwalt Tanchev hat – was konsequent ist – zugleich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass andererseits der Arbeitnehmer die Verantwortung dafür hat, dass er den Urlaubsanspruch geltend macht.

Pflicht zur Urlaubszuweisung ohne Antrag?

Zwar hat sich der EuGH im aktuellen Fall dazu nicht geäußert. Folgt der EuGH jedoch dem Verständnis des Generalanwalts, ist die Vorlage des BAG vom 13.12.2016 (9 AZR 541/15) beantwortet. Es gibt  nach Auffassung des Generalanwalts unionsrechtlich keine Pflicht des Arbeitgebers zur Urlaubszuweisung auch ohne Antrag des Arbeitnehmers. Es genügt vielmehr, dem Arbeitnehmer die Möglichkeit zu geben, bezahlten Jahresurlaub in Anspruch zu nehmen. Macht der Arbeitnehmer hiervon keinen Gebrauch, geht der Urlaubsanspruch spätestens am 31. März des jeweiligen Folgejahres unter.

 

Autor: Manfred Arnold ist Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht a.D. und Mitherausgeber des Praxiskommentars Arnold/Tillmanns zum Bundesurlaubsgesetz.


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