Ausbildungsforscher fordert: "Schluss mit Jammern"
Personalmagazin: Weniger Ausbildungsabbrüche: Dafür starten Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften immer neue Initiativen. Wie haben sich diese denn bislang auf die Zahl der Abbrüche ausgewirkt?
Ernst Deuer: So gut wie gar nicht. Wenn ich die Entwicklung von Ausbildungsabbrüchen in den vergangenen 20 Jahren betrachte, herrscht fast Stillstand: Die Abbruchquote liegt seit den 1990er-Jahren ziemlich konstant bei 140.000 bis 150.000 Ausbildungsabbrüchen im Jahr, das betrifft jeweils zwischen 22 und 25 Prozent der Ausbildungsverhältnisse. Dabei hat es in der Tat die ganze Zeit über nicht an Initiativen gemangelt. Und es ist auch schon seit 20 Jahren bekannt, wo die Gründe für Abbrüche liegen. Aber es ist offenbar schwer, das Problem in den Griff zu bekommen.
Personalmagazin: Warum ist es so schwer, etwas Wirksames dagegen zu tun?
Deuer: Ein Grund dafür ist meiner Meinung nach, dass jeder Abbruch seine eigene Geschichte hat – und es sich schwer bewerten lässt, ob eine individuelle Lösung auch allgemein greift. Ein weiteres Problem: Bei Ausbildungsabbrüchen untersucht man ein Ausbildungsverhältnis, das zum Zeitpunkt der Untersuchung schon beendet ist. Das ist methodisch anspruchsvoll, denn meist kann man die Jugendlichen nicht mehr zu ihren Gründen befragen. Das Bundesinstitut für Berufsbildung erforscht diese Gründe über repräsentative Nachbefragungen: Die Forscher sprechen über Kammern Abbrecher an und befragen sie zu den Ursachen.
Personalmagazin: Was ist laut Forschung der häufigste Grund für Abbrüche?
Deuer: Es gibt zwar insgesamt viele verschiedene Gründe. Aber die meisten Jugendlichen, die ihre Ausbildung abbrechen, nennen Probleme im Betrieb als Grund. In eigenen Studien haben wir duale Studenten befragt, die ja ähnlich wie Azubis auch doppelt in Betrieb und Schule verankert sind. Wir haben zwischen den Studenten unterschieden, die einen Ausbildungsabbruch für wahrscheinlich erachten, und denen ohne Abbruchneigung. Dabei stützten wir uns auf die Erkenntnis aus einer früheren Studie, dass eine Abbruchneigung auch tatsächlich ein Indikator für Abbrüche sein kann. Allen dualen Studenten haben wir Fragen zur Ausbildungsgestaltung gestellt.
Statt nur darüber zu jammern, dass das Azubi-Recruiting schwieriger geworden ist, sollten die Betriebe ihre Haltung ändern: Bisher waren sie gewohnt, dass sie nur die richtigen Azubis finden müssen, und dann läuft's mit der Ausbildung. Das gilt heute nicht mehr.
Ernst Deuer, DHBW Ravensburg
Beim Vergleich der Antworten von Jugendlichen mit und ohne Abbruchgedanken zeigte sich: Weiche Kriterien wie Wertschätzung und Work-Life-Balance können ein Indikator für harte Folgen sein, ob jemand zum Abbruch tendiert oder nicht. Dort, wo die Abbruchquote hoch ist, fehlt etwa das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben und umgekehrt. Dieses Phänomen erklären wir mit dem Modell der "Gratifikationskrise" …
Personalmagazin: Das müssen Sie kurz erklären.
Deuer: Das Modell stammt aus der Medizinsoziologie und geht auf Johannes Siegrist zurück. Es beschreibt das Missverhältnis zwischen dem, was jemand – etwa ein Azubi – leistet und dem, was er dafür zurückbekommt – also Vergütung, Lob oder Wertschätzung. Leistet der Azubi etwas, bekommt dafür aber nichts zurück, entsteht eine Gratifikationskrise. Medizinische Studien haben gezeigt: Dort, wo solche Krisen ausgeprägt sind, entstehen häufiger Herzerkrankungen und Burn-out. In meiner Forschung habe ich die Gratifikationskrise auf Arbeitsverhältnisse übertragen und festgestellt: Es gibt auch eine eindeutige Korrelation zwischen der Krise und der Abbruchneigung eines Azubis.
Personalmagazin: Worüber beklagen sich die Jugendlichen am häufigsten?
Deuer: Sie beschweren sich häufig, dass es in ihrem Betrieb keinen guten Mix aus Aufgaben und Anforderungen gibt, dass Lob und konstruktive Rückmeldungen fehlen. Dies zu verbessern könnte ein wirkungsvoller Hebel sein, um die Abbruchneigung zu reduzieren.
Personalmagazin: Was bedeutet das für Ausbilder und Recruiter?
Deuer: Zwar stimmt ihre Klage, dass es schwieriger geworden ist, gute Azubis zu finden. Gründe sind die demografische Entwicklung und die Tatsache, dass Schulabgänger heute lieber studieren, als eine Ausbildung zu absolvieren. Statt aber nur darüber zu jammern, sollten die Betriebe tatsächlich ihre Haltung ändern: Bisher waren sie gewohnt, dass sie nur die richtigen Azubis finden müssen, und dann läuft's mit der Ausbildung. Das gilt heute nicht mehr. Aber viele Betriebe legen weiter eine selbstgerechte Haltung an den Tag. Wenn ein Azubi scheitert, der kein Wunschkandidat war, heißt es: "Na, das war ja klar."
"Ausbilder müssen weg von der Haltung, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind." Ernst Deuer, DHBW Ravensburg
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Außerdem müssen Ausbilder weg von der Haltung, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind. Das soll natürlich nicht so weit gehen, dass man die Ausbildung zur Komfortzone erklärt. Wichtig ist jedoch, dass die Ausbilder Brücken bauen, über die die Jugendlichen dann hoffentlich auch gehen. Nicht jeden Abbruch können sie damit vermeiden, und nicht jeden Abbruch müssen sie vermeiden. Aber viele Abbrüche könnten so verhindert werden.
Personalmagazin: Wann sollten bei den Ausbildern die Alarmglocken schrillen?
Deuer: Sie sollten gar nicht erst warten. Viele Ausbilder lassen die Ausbildung aber erst einmal laufen. Wenn sie merken, dass es Probleme gibt, ist es oft schon zu spät. Stattdessen müssten sich die Ausbilder um die Jugendlichen, die sie einstellen, vom ersten Tag an besser kümmern – gerade, wenn diese keine Wunschkandidaten sind. Und sie wissen ja meist sehr genau, wer da zu ihnen kommt: Denn sie haben die Bewerbungsunterlagen gelesen, die Jugendlichen interviewt und oft auch getestet. Gerade in der Probezeit gilt es daher, Probleme zu identifizieren und diese in Angriff zu nehmen. Je schneller dies geschieht, desto realistischer ist es, dass Ausbilder und Azubi das Problem gemeinsam lösen können und dass der Azubi das bestmögliche erreicht. Dafür stehen den Ausbildern einige Stellschrauben zur Verfügung: etwa ausbildungsbegleitende Hilfen, Maßnahmen der assistierten Ausbildung oder Mentorenschaften zwischen jüngeren und älteren Azubis im Unternehmen.
Personalmagazin: In manchen Fällen ist aber dennoch alle Liebesmüh' umsonst...
Deuer: Das stimmt zwar – aber nicht jeder Abbruch ist die schlechteste Lösung für alle Beteiligten. Manchmal ist ein Fortführen des Ausbildungsverhältnisses für eine oder sogar beide Seiten einfach nicht mehr zumutbar.
Die Freiheit der Berufswahl gilt auch für Azubis. Es steht ihnen frei, ihre Entscheidung zu korrigieren – auch, wenn das ist nicht schön für den Betrieb und nicht schön für die Statistik ist. Das sollten enttäuschte Ausbilder nie vergessen.
Ernst Deuer, DHBW Ravensburg
Und selbst wenn es aus geringeren Gründen zu einem Abbruch kommt – etwa, wenn der Jugendliche kündigt, weil seine Freundin in eine andere Stadt zieht –, sollten enttäuschte Ausbilder nie vergessen: Die Freiheit der Berufswahl gilt auch für Azubis. Es steht ihnen frei, ihre Entscheidung zu korrigieren. Das ist nicht schön für den Betrieb und nicht schön für die Statistik – aber Azubis, die gehen wollen, lassen sich nicht mit der Perspektive beglücken, dass sie doch noch ihre Ausbildung abschließen könnten.
Personalmagazin: Wer zieht denn meist den Schlussstrich: Azubis oder Betriebe?
Deuer: In den meisten Fällen kündigen die Jugendlichen. Dies ist aber auch dadurch bedingt, dass die Betriebe nach Ablauf der Probezeit nur bei massivem Fehlverhalten kündigen können. Interessant ist: Wenn man die Beteiligten fragt, wer für das Scheitern verantwortlich ist, schiebt jeder die Schuld auf den anderen. Die Jugendlichen meinen, der Ausbilder sei schuld, und die Ausbilder, die Jugendlichen seien nicht motiviert.
Personalmagazin: ... und was glauben Sie?
Deuer: Diese Einschätzung ist natürlich auf beiden Seiten subjektiv gefärbt. Für mich zeigt das: Etwas mehr Sensibilität für die eigene Rolle und Verantwortung würde allen Beteiligten guttun.
Prof. Dr. Ernst Deuer ist Professor für Personalmanagement an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Ravensburg und forscht zu Ausbildungsabbrüchen.
Das Interview führte Andrea Sattler, Redaktion Personal.
Hinweis: Das Interview ist ein Auszug aus Ausgabe 08/2017 des Personalmagazins ( hier können Sie die aktuelle Ausgabe als App downloaden). In unserer Titelstrecke "Update für die Lehre" lesen Sie dort unter anderem auch,
- wie die St. Gereon Seniorendienste jeden, der will, als Azubi ausbilden und so den Fachkräftemangel in der Altenpflege bekämpfen
- wie das Handwerk mit dem "dualen Gymnasium" Jugendliche früh für eine Berufsausbildung begeistern will
- welche Fördermöglichkeiten Ausbildungsbetriebe nutzen können, die förderbedürftige Azubis beschäftigen.
Mehr zum Thema "Ausbildungsabbrüche" lesen Sie auch hier:
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