Personalmagazin: Wie gesund sind die mittelständischen Unternehmen in Deutschland?
Werner Winter: Der letzte IGA Report zeigt: Je kleiner das Unternehmen, desto weiter sinkt die Bedeutung für die betriebliche Gesundheitsförderung. Gerade Kleinunternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten haben hier schon noch einen großen Nachholbedarf.
Claudia Dunschen: Aus Arbeitgebersicht lässt sich sagen, dass schon einiges vor Ort in den Unternehmen für die Gesundheit der Mitarbeiter unternommen wird, allerdings nicht immer unter dem Label BGM oder BGF.
Michael Schulz: Betriebliche Gesundheit wird so unterschiedlich gelebt, wie es unterschiedliche Betriebsstätten gibt. Das ist die Schwierigkeit.
Thomas Wagemann: Wir haben 3,5 Millionen kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland, in denen 60 Prozent der Beschäftigten tätig sind. Wenn ich dem gegenüberstelle, was dort an BGF-Maßnahmen durchgeführt wird, beziehungsweise über die Krankenkassen gefördert wird, ist das eine verschwindend geringe Zahl. Doch man muss sich im Klaren sein, dass die Krankenkassen hier nur unterstützende Funktion haben und die Gesundheit der Beschäftigten im Interesse der Betriebe liegt.
"Der letzte IGA Report zeigt: Je kleiner das Unternehmen, desto weiter sinkt die Bedeutung für die betriebliche Gesundheitsförderung." Werner Winter, Leiter Fachbereich Arbeitswelt, Bereich Gesundheitsförderung bei der AOK Bayern.
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Betriebliche Gesundheitsförderung muss erstmal überhaupt verstanden werden
Aber warum erreicht das Angebot der Krankenkassen nur so wenige?
Michael Schulz: Das ist auch ein psychologisches Problem. Betriebliche Gesundheitsförderung oder Gesundheit muss erstmal – sowohl auf Arbeitgeber- wie auch auf Arbeitnehmerseite – als Grundvoraussetzung überhaupt verstanden werden. Den Unternehmen muss zum großen Teil erstmal klar werden, dass nur ein gesunder Mitarbeiter überhaupt arbeitsfähig ist und dass auch in diesem Bereich der Arbeitgeber eine Fürsorgepflicht hat. Und den Arbeitnehmer trifft die Bringschuld, sich gesund zu erhalten.
Claudia Dunschen: Mit den gesetzlichen Leistungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz gewährleistet der Arbeitgeber bereits einen sehr hohen Standard. Hinzu kommen freiwillige Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung, die auch dem Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit dienen. Diese können durch die Angebote der Krankenkassen unterstützt und gestärkt werden.
Werner Winter: Gerade in den letzten Jahren haben die Betriebe sehr viel im Bereich Arbeitsschutz oder Gesundheitsschutz getan. Größere Unternehmen haben ihre eigenen Fachkräfte für diese Themen, Fachkräfte für Arbeitssicherheit, vielleicht auch einen Betriebsarzt. Diese wichtigen Multiplikatoren fehlen in den kleineren und mittleren Unternehmen, auch aufgrund mangelnder personeller und finanzieller Ressourcen.
"Betriebe brauchen vor allem einen niederschwelligen Zugang und unbürokratische Unterstützung." Claudia Dunschen, Bereich Arbeitsmarktpolitik, Landesvereinigung der Unternehmensverbände NRW
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Die regionale Koordinierungsstelle übernimmt eine Lotsenfunktion
Wie können gerade KMU hier unterstützt werden, damit sie auch ohne professionelle Multiplikatoren Gesundheitsförderung betreiben?
Claudia Dunschen: Betriebe brauchen vor allem einen niederschwelligen Zugang und unbürokratische Unterstützung. Auch Analysen sind wichtig, in erster Linie aber brauchen Unternehmen einen pragmatischen Problemlöser, der passgenaue Angebote kennt.
Michael Schulz: Genau aus diesem Grund haben sich die regionalen Koordinierungsstellen gegründet. Die einzelnen Krankenkassen haben eine Vielzahl von Ansprechpartnern, zusätzlich gibt es eine riesige Anzahl kommerzieller Dienstleister. Wer Google aufruft und den Begriff BGF eingibt, findet knappe 500.000 Einträge. Wie soll sich ein Unternehmen, das schnelle und unkomplizierte Hilfe braucht, da orientieren? Die regionale Koordinierungsstelle ist eine vom Gesetzgeber geschaffene zentrale Instanz, die eine Lotsenfunktion übernimmt, Orientierung schafft und eben auch Lösungen anbieten kann.
"Bei Bedarf findet das Unternehmen direkt den Zugang zur Beratung und kann auch sofort sein konkretes Problem angeben." Thomas Wagemann, Leiter des Referates Gesundheit/Versicherung, BKK-Landesverband Nordwest.
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Thomas Wagemann: Wir haben jetzt mit der BGF-Koordinierungsstelle tatsächlich diesen niedrigschwelligen Zugang für die Unternehmen geschaffen. Bei Bedarf findet das Unternehmen direkt den Zugang zur Beratung und kann auch sofort sein konkretes Problem angeben. Geht es um zu viele Fehlzeiten oder sind die Probleme im Betrieb anderweitig gelagert? Damit kann sofort in die qualitative Beratung eingestiegen werden. Das Schöne an den BGF-Koordinierungsstellen ist: Wir haben ein bundesweites, flächendeckendes Netz, das alle vorhandenen Beratungsstrukturen, die bei den Krankenkassen liegen, nutzt.
Werner Winter: Und wir wollen nicht nur den richtigen Ansprechpartner zur Verfügung stellen, sondern auch schnell reagieren: Die Kassen haben sich darauf verständigt, innerhalb von zwei Werktagen nach Kontaktaufnahme zumindest eine telefonische Beratung anzubieten, um, falls notwendig, einen Beratungstermin vor Ort zu vereinbaren.
Mitarbeiter mit Gesundheitstagen für das Thema sensibilisieren
Was können die Unternehmen von einer Unterstützung durch die BGF-Koordinierungsstellen erwarten?
Werner Winter: Die Maßnahmen und die Beratung beziehen sich natürlich in erster Linie auf die Wünsche der Unternehmen. Das kann vielfältig sein, von der Ausgestaltung eines niedrigschwelligen Gesundheitstages, um Mitarbeiter für Gesundheitsthemen zu sensibilisieren, bis hin zur Beratung und Unterstützung bei der Einrichtung eines strukturierten und systematischen BGM im Unternehmen.
Thomas Wagemann: Unter die Begrifflichkeit BGM fallen ja die unterschiedlichsten Leistungen, die teilweise durch unterschiedliche Träger zur Verfügung gestellt werden. Wer sich im Arbeitsschutz bewegt, hat vordergründig die gesetzliche Unfallversicherung als verantwortlichen Träger im Boot, liegen die Probleme im betrieblichen Eingliederungsmanagement, dann kommt der Ansprechpartner aus der Rentenversicherung. Das Modul betriebliche Gesundheitsförderung wird durch die Krankenkassen bedient. Diese unterschiedlichen Leistungen für Betriebe werden über die Koordinierungsstelle an das Unternehmen gebracht. Das frühere Problem vieler Betriebe, sich die Ansprechpartner einzeln raussuchen zu müssen, ist damit gelöst. Die Koordinierungsstelle steuert das.
"Es geht darum, Unternehmen gesünder zu gestalten, damit sie ein lebenslanges Arbeiten ermöglichen." Michael Schulz, Referent Gesundheitsmanagement bei der Techniker Krankenkasse.
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Die BGF-Koordinierungsstelle bietet Lösungen für individuelle Themen der Unternehmen
Die Idee, die Koordinierungsstellen kassenübergreifend anzubieten, ist ein Novum in der Sozialversicherungslandschaft. Denn sie sind ja auch im Wettbewerb um Mitglieder – ist das ein Problem?
Michael Schulz: Nein, definitiv nicht. Es geht darum, Unternehmen gesünder zu gestalten, damit sie ein lebenslanges Arbeiten ermöglichen. Das ist unsere Kernaufgabe in der Lebenswelt Betriebe. Gesunde Unternehmen schaffen wir nur, wenn alle an einem Strang ziehen.
Werner Winter: BGF ist eine gesetzliche Pflichtleistung der Krankenkassen. Es entspräche ferner nicht dem Gedanken der Gesundheitsförderung, BGF-Maßnahmen nur nach Mitgliederzahlen oder Potenzialen zu generieren.
Claudia Dunschen: Die Unternehmen, die sich an die BGF-Koordinierungsstelle wenden, suchen ja eine Lösung für ihr individuelles Thema. Statt Akquise muss es um Unterstützung der Unternehmen gehen.
Hintergrund: Kooperationsgemeinschaft Bund der Gesetzlichen Krankenkassen
Bei der Entwicklung und Umsetzung der BGF-Koordinierungsstellen gemäß § 20b Abs. 3 SGB V arbeiten die Krankenkassen auf Bundes- und Landesebene eng zusammen. Als Kooperationsgemeinschaft auf Bundesebene sind dies:
- Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek),
- AOK-Bundesverband,
- BKK Dachverband e. V.,
- Innungskrankenkassen,
- Knappschaft
- Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG).
Die Federführung liegt derzeit beim BKK Dachverband e. V.
Die Interview-Partner:
Claudia Dunschen, Bereich Arbeitsmarktpolitik, Landesvereinigung der Unternehmensverbände NRW
Werner Winter, Leiter Fachbereich Arbeitswelt, Bereich Gesundheitsförderung bei der AOK Bayern
Thomas Wagemann, Leiter des Referates Gesundheit/Versicherung, BKK-Landesverband Nordwest
Michael Schulz, Referent Gesundheitsmanagement bei der Techniker Krankenkasse.
Moderation des Gesprächs: Katharina Schmitt, Personalmagazin