"Ein völlig neues Spiel"
Haufe Online-Redaktion: Dr. Kotter, weltweit betreiben wir Change Management nach den Regeln, die Sie in "Leading Change" definiert haben. Jetzt haben Sie in Ihrem Buch "Accelerate" diesen Ansatz weiterentwickelt. Warum?
John Kotter: In "Leading Change" ging es um groß angelegte Change-Projekte. Die wurden damals schlecht gemanagt – und ich hoffe, dass auch heute noch meine Ideen helfen, solche Mammutprojekte erfolgreicher zu gestalten. In den letzten Jahren hat die Zahl strategischer Projekte allerdings drastisch zugenommen. Change ist ein Dauerzustand. Da trägt der Ansatz nicht mehr.
Unsere Organisationsstrukturen sind nicht dafür gemacht, schnelles und agiles Handeln zu ermöglichen.
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Zum einen genügt es nicht, die einschlägigen Instrumente alle zwei Jahre aus dem Werkzeugkasten zu holen und nach Abschluss des Projekts wieder zurückzulegen. Zum anderen stehen unsere Organisationsstrukturen dem Wandel entgegen. Die sind nicht dafür gemacht, schnelles und agiles Handeln zu ermöglichen. Change ist wirklich ein völlig neues Spiel geworden.
Haufe Online-Redaktion: Was ist falsch an unseren Unternehmensstrukturen?
Kotter: Herkömmliche Unternehmen setzen auf Hierarchien, operieren in Silos, arbeiten mit Leitlinien, definierten Rollen und Prozessen sowie ausgefeilten Planungssystemen. Sie gewährleisten, was etablierte Unternehmen sicherstellen müssen: effizient und stabil ein Standardgeschäft durchzusteuern. Das ist eine große Herausforderung, die gar nicht hoch genug zu bewerten ist. Aber solche Organisationen tun sich schwer damit, strategische Chancen und Risiken schnell zu erkennen und darauf zu reagieren. Wenn Sie wissen wollen, wie man intelligente, innovative Entscheidungen unbürokratisch trifft und schnell umsetzt, müssen Sie sich erfolgreiche Startups anschauen. Die haben nichts außer ihrer Agilität. Und die verdanken sie ihren Netzwerkstrukturen.
Haufe Online-Redaktion: Das heißt, aus etablierten Unternehmen sollen Startups werden?
Kotter: Nicht ganz. Wir brauchen beides in Organisationen: Stabilität und Agilität, Hierarchien und Netzwerke. Wir brauchen das, was ich ein "duales Betriebssystem" für Unternehmen nenne. In "Accelerate" erkläre ich, wie man ein solches duales Betriebssystem in Organisationen implementiert.
Organisationen brauchen ein duales Betriebssystem: Stabilität und Agilität. Hierarchien und Netzwerke.
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In Europa neigen Unternehmen dazu, beide Welten strikt voneinander zu trennen. Sie gründen Inkubatoren oder Spezialeinheiten, die weit weg vom Standardgeschäft operieren und sich mit Innovation oder strategischem Wandel beschäftigen. So wurden Generationen von Managern eben instruiert. Nicht nur in Europa, das gilt weltweit. Aber das wird sich ändern. Denn hier entscheidet sich, wer die Herausforderungen meistern wird und wer nicht.
Haufe Online-Redaktion: Sind Sie sicher, dass Ihr "duales Betriebssystem" hält, was es verspricht?
Kotter: Wir haben meine Überlegungen in unserer Beratungsgesellschaft Kotter International in mehreren Projekten getestet. Außerdem stütze ich mich auf jede Menge Forschung. Die Bilanz der getrennten Welten ist ernüchternd. Es mag ein paar wenige geben, die damit gut fahren. Die Mehrheit tut es nicht. Mir ist das vor 30 Jahren bei Xerox aufgefallen, wenngleich ich damals die ganze Tragweite noch nicht erfasst habe.
Haufe Online-Redaktion: Xerox galt als eines der innovativsten Unternehmen seiner Zeit!
Kotter: Zu Recht! Die hatten eine neue Generation von Kopiergeräten erfunden und wuchsen damit stark. Wann immer sie aber versuchten, dem weitere Innovationen folgen zu lassen, sind sie gescheitert. Die Manager folgerten daraus, es fehlten eben ausreichend innovative und kreative Kapazitäten im Unternehmen. Deshalb haben sie eine eigene neue Einheit in der Nähe von Stanford an der Westküste aufgemacht, während sie ihr Standardgeschäft weiter von Rochester an der Ostküste aus betrieben. Sie nannten die neue Einheit Palo Alto Research Center, haben dort neue Leute eingestellt und ihnen eigene Budgets vermacht. Das hat funktioniert, denn aus Palo Alto kamen tatsächlich tolle Ideen. Allein, keine davon wurde ein Erfolg.
Haufe Online-Redaktion: Warum?
Kotter: Die Leute in Palo Alto hatten wirklich großartige Ideen, aber es gab keinen, der sie weitergetragen und umgesetzt hätte. Das hätte in Rochester passieren müssen. Doch dort stellte man sich eher quer, weil das jeweils neue Prozesse und Strukturen erfordert hätte.
Haufe Online-Redaktion: Das übliche Verhalten zwischen Silos.
Kotter: Mehr als das. Rochester blockierte nicht nur, sondern wurde argwöhnisch. Verbrannten die in Palo Alto nicht unnütz Budget, dachten die überhaupt praxisorientiert? Aber auch in Palo Alto wuchsen die Vorbehalte. Waren die in Rochester nicht völlig verblendet, was Zukunftschancen anging? Sie ahnen, wie das endet.
Die Bilanz der getrennten Einheiten ist ein Desaster.
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Die Klügsten aus Palo Alto gründeten rund um ihre Ideen eigene Firmen – von denen aber einige nicht überlebten, weil ihnen die Finanzmittel fehlten, die ihnen Rochester locker hätte geben können. Und genau solche Probleme haben zahlreiche Firmen, die auf Trennung der Welten setzen, heute immer noch.
Haufe Online-Redaktion: Dann sorgt das zweite Betriebssystem für bessere Akzeptanz von Change-Maßnahmen und Innovationen?
Kotter: Ja, und es hilft, diese schneller umzusetzen. Es gibt zu viele Leute, die nicht mitziehen, weil sie nicht einbezogen waren oder sich mit Dingen beschäftigen wollen, für die sie eigentlich verantwortlich sind. Auch wenn es mancherorts gelingen mag, im Großen und Ganzen ist die Bilanz der getrennten Einheiten ein Desaster. Das gilt auch für Akquisitionen. Viele Firmen kaufen Startups zu horrenden Preisen, die sie dann wegen Erfolglosigkeit wieder schließen. Hierfür gibt es viele Belege.
Haufe Online-Redaktion: Findet man denn im "ersten Betriebssystem" überhaupt die richtigen Leute dafür?
Kotter: In der Regel benötigen Sie nicht mehr als zehn Prozent ihrer Kernbelegschaft, um solche Projekte erfolgreich voranzutreiben. Und die finden Sie immer – in der nötigen Quantität wie Qualität. Das gelang uns selbst in Firmen, wo das Management unseren Empfehlungen gegenüber skeptisch war.
Initiativen im zweiten Betriebssystem müssen sowohl rational überzeugen als auch emotional begeistern.
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Haufe Online-Redaktion: Wie stößt man denn eine Initiative im "zweiten Betriebssystem" richtig an?
Kotter: Häufig geht der Anstoß von der Mitte des Unternehmens aus. Wir dagegen versammeln zuerst das Topmanagement und unterstützen sie dabei, die größten Chancen zu identifizieren. Das muss etwas sein, das sowohl rational überzeugt als auch emotional begeistert. Sie schreiben das in ein oder zwei Absätzen auf und geben es ans Mittelmanagement. Dort werden immer zwei oder drei die Hand heben und fragen "Kann ich mitmachen?".
Haufe Online-Redaktion: Und wie wird im "zweiten Betriebssystem" gemanagt?
Kotter: Jedenfalls nicht nach den Regeln eines Top-down-Projektmanagements. Die Leute im "zweiten Betriebssystem" werden sich selbst organisieren. Sie werden das im Rahmen der Leitplanken tun, die das Topmanagement vorgegeben hat. Denn das gibt ihnen Sicherheit. Aber dann starten sie durch.
Haufe Online-Redaktion: Gibt es wenigstens Zielvorgaben oder Meilensteine?
Kotter: Nein. Um Zahlen herum, die das Topmanagement spannend findet, können Sie keine Bewegung formen, die die Dinge vorantreibt. Die Beteiligten werden sich in einer ersten, neuntägigen Arbeitsphase selbst Ziele geben und diese mit dem Management abstimmen.
Die Leute im "zweiten Betriebssystem" werden sich selbst organisieren und Ziele setzen. Und dann starten sie durch.
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In der Regel staunen die Herrschaften dann, wie ambitioniert diese Ziele sind. Denn die zweite Arbeitsphase ist in der Regel bereits nach 90 Tagen abgeschlossen. Der Elan wird bald im ganzen Unternehmen spürbar und immer mehr Leute schließen sich dem Vorhaben an.
Haufe Online-Redaktion: Sie schwärmen regelrecht davon, wie befreiend dieses "zweite Betriebssystem" wirkt. Was wird dann aber aus dem ersten? Erscheint das dann nicht als bloßes Hamsterrad der Routine?
Kotter: Dass dem so wäre, haben wir noch nie erlebt. Aber sie haben ja eine hohe Durchdringung der beiden Systeme. Die Leute rotieren rein und raus, sobald ein Platz frei wird oder anderes ansteht. Außerdem führt die Arbeit im "zweiten Betriebssystem" häufig dazu, dass Ineffizienzen oder Absurditäten des "ersten Systems" offenbar werden und die Leute sie von sich aus abschaffen. So wird auch das "erste System" eine bessere Arbeitsumgebung.
Dr. John Kotter ist Professor an der Harvard Business School und gilt als Vordenker im Change Management. Das vollständige Interview lesen Sie im Personalmagazin, Ausgabe 7/2016.
Das Interview führte Randolf Jessl.
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