Bewerbungsanschreiben abschaffen? Was dafür spricht


Kolumne Recruiting: Bewerbungsschreiben abschaffen

Austauschbar und wenig aussagekräftig seien die Bewerbungsanschreiben vieler Kandidaten, beschweren sich Personaler immer wieder. Dabei sind sie selbst Schuld an der Misere, meint Kolumnist Henner Knabenreich  – und plädiert dafür, Bewerbungsschreiben endlich abzuschaffen.

Hand aufs Herz: Was sagt uns eigentlich ein Anschreiben über die Eignung des Bewerbers? Vor allem, wenn man bedenkt, dass ein solches Bewerbungsanschreiben (mit Ausnahme der Initiativbewerbung) immer eine Reaktion auf eine Stellenanzeige ist.

Und, das wissen wir (nicht nur) aus diversen Studien: Deren Qualität und Aussagekraft lässt in vielen Fällen zu wünschen übrig. Anstatt wirklich die relevanten Aufgaben darzustellen und wirklich im Kontext der Aufgabe stehende Anforderungsprofile zu erstellen, finden wir da zumeist beliebige Floskeln und eine Auflistung von Substantiven, bevorzugt in der "-ung"-Form (wie kürzlich wieder eine Analyse von mehr als 100.000 Stellenanzeigen ergeben hat).

Austauschbare Bewerbungsschreiben: ein hausgemachtes Problem

Kurioserweise sind es aber gerade die Personaler, die sich über austauschbare Anschreiben ohne jegliche Aussagekraft und darüber beschweren, dass man ja keine Bewerber findet – dabei ist das Problem dank solch austauschbarer (und nicht selten in den falschen Medien geschalteter) Stelleninserate in den meisten Fällen hausgemacht.

Hinzu kommt: Warum sollten beispielsweise ein Software-Entwickler oder eine Erzieherin ein Anschreiben vorlegen? Wieso sollte eine Pflegefachkraft in Prosa darlegen, warum sie besonders gut geeignet ist? Lassen sich aus einem Anschreiben tatsächlich Schlüsse in Bezug auf die fachliche oder gar persönliche Eignung ziehen? Sollte ein Software-Entwickler nicht einfach nur richtig gut coden, eine Erzieherin erziehen und bestens mit Kindern können? Eine Pflegefachkraft pflegen?

Über die fachliche Qualifikation gibt der Lebenslauf zur Genüge Auskunft. Oder ein Profil auf Linkedin oder Xing, ebenso die Referenz früherer Arbeitgeber, oder, im Zweifels- oder sogar im Idealfall: ein Telefongespräch. Denn das persönliche Gespräch kann ohnehin nichts ersetzen.

Diagnostischer Wert des  Anschreibens ist zweifelhaft

Ohnehin ist es oft so, dass nur die wenigsten Unternehmen verbindliche Anforderungen für eine Stelle festlegen. Vielmehr gehen diese auf beliebige Wunschlisten zurück, bei denen weder auf die Konsistenz zwischen den Anforderungen selbst, noch zwischen Aufgaben und Anforderungen geachtet wird.

Ein klar definiertes Stellenprofil? Oft Fehlanzeige. Ein Entwickler hat Software zu entwickeln. Ein Erzieher soll erziehen. Eine Pflegefachkraft pflegen. Fertig.

Auch über die Wirksamkeit der Selbstselektion von Bewerbern anhand der Inhalte von Stellenanzeigen ist nichts bekannt. Zwar gibt es Studien zu deren Gestaltung. Aber keine über eine bestmögliche und valide Basisrate der Bewerber durch eine realistische Selbsteinschätzung.

Trotz allem fordern Personaler ein Anschreiben, aus dem hervorgeht, warum man denn überzeugt sei, besonders gut auf die Stelle zu passen. Oft bedeutet ein fehlendes Anschreiben sogar das Aus für den Bewerber. Dabei ist die diagnostische Aussagekraft des Anschreibens eher zweifelhaft, sind diese doch oft in hohem Maße im Sinne einer vorteilhaften Selbstdarstellung manipuliert. Somit steht die Interpretation eines Anschreibens in etwa auf der Stufe des Kaffeesatzlesens oder eines grafologischen Gutachtens.

Personaler wissen oft selbst nicht, wie relevant Stellenanforderungen sind

Und dann haben wir da noch den Punkt der Selbstcharakterisierung. Wenn sich beispielsweise ein Bewerber im Anschreiben als „flexibel“ bezeichnet, ist weder bekannt, welchen Maßstab er (oder der Personaler) bei „Flexibilität“ anlegt, noch wie relevant diese Anforderung für die ausgeschriebene Stelle wirklich ist. Das wissen ja selbst die Verfasser solcher Stellenanzeigen in vielen Fällen nicht.

In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die Frage, wie man „Teamfähigkeit“, „Flexibilität“, „Begeisterungsfähigkeit“ oder „Einsatzbereitschaft“ anhand eines Anschreibens überhaupt beurteilen kann – und inwieweit sich die Vorstellungen des Bewerbers bezüglich der einzelnen Begriffe mit dem zwischen Tür und Angel erstellten Anforderungsprofil decken.

Auf Anschreiben verzichten und Resourcen sinnvoll investieren

Und damit nicht genug: Wenn Stelleninserate so wenig aussagekräftig sind, können wir dann aussagekräftige Bewerbungen erwarten? Wäre es dann nicht konsequent, auf die Anschreiben zu verzichten und die neu gewonnenen Ressourcen sinnvoll zu investieren?

Tatsächlich gibt es Unternehmen, die erkannt haben, dass das Anschreiben eine unnötige Hürde für die dringend gesuchten Bewerber darstellt –  mit der logischen Konsequenz, dass sie das Anschreiben abgeschafft haben.


Henner Knabenreich ist Geschäftsführer der Knabenreich Consult GmbH. Er berät Unternehmen bei der Optimierung ihres Arbeitgeberauftritts. Zudem ist er Initiator von www.personalblogger.net und betreibt den Blog  personalmarketing2null.de.


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