Vor einigen Jahren hat Professor Heinz Schuler in einem seiner Bücher einen großartigen Praxisfall beschrieben, bei dem ihn der Personalchef eines mittelständischen Unternehmens in die Geheimnisse der Personalauswahl nach dem Prinzip "Menschenkenner" eingeweiht hat. Und das sah ungefähr so aus: Steht ein wichtiges Auswahlverfahren an, bei dem der Personalchef persönlich das Einstellungsinterview führt, stellt er sich einige Zeit vor dem Termin an ein Fenster zum firmeneigenen Parkplatz und lauert dem Kandidaten auf. Ihn interessiert nicht so sehr, wie pünktlich der Bewerber erscheint, nein, es geht vielmehr um die Art und Weise, wie der Bewerber aus dem Auto aussteigt.
Ja, Sie haben richtig gelesen. An der Art und Weise, wie der Bewerber aussteigt, vermag der alte Fuchs zu erkennen, um welche Persönlichkeit es sich handelt – und tatsächlich hat er nach eigenem Bekunden noch nie daneben gelegen. Wer ungeschickt aussteigt, hat sich auch im Vorstellungsgespräch als ungeeignet erwiesen. Souveräne Autoaussteiger zeigen sich hingehen auch nach eingehender Exploration durch den Menschenkenner als überaus geeignet. – In tiefer Demut verneigen wir unser Haupt vor so viel Weisheit und Erfahrung.
Personalauswahl mittels Wurfspiel, leeren Stühlen und Pendel
Ein skurriler Einzelfall? Weit gefehlt. Hier einige weitere Kostproben:
Beispiel 1: Eine Studentin der Wirtschaftspsychologie berichtet nach ihrem Praktikum von einem Unternehmen, in dem die Bewerber einen Gummiring über einen Holzpflock werfen müssen. Dabei darf der Bewerber selbst den Abstand wählen. Die Entfernung sowie die Trefferquote werden zur Persönlichkeitsdiagnostik eingesetzt.
Beispiel 2: Eine andere Studentin hat in einem Unternehmen ihr Praktikum absolviert, im dem der Bewerber vor dem Einstellungsinterview allein in einen Raum geschickt wird. In dem Raum steht ein großer Tisch mit zahlreichen Stühlen. Er wird gebeten, irgendwo Platz zu nehmen und noch einige Minuten auf den Interviewer zu warten. Was der Bewerber nicht weiß: Bereits jetzt startet die Diagnostik der Hobby-Psychologen. Den Interviewer interessiert brennend, auf welchen Stuhl sich der Bewerber setzt, denn das sagt mehr als tausend Worte. Sitzt er mit dem Rücken zu Wand, hat er etwas zu verbergen. Ein Platz vor dem Fenster deutet auf einen ausgeprägten Fluchtinstinkt hin. Sitzt er am Kopfende, so versucht er zu dominieren – gut für angehende Führungskräfte, schlecht für Azubi-Bewerber.
Beispiel 3: Nach einem Vortrag über Fehler der Personalauswahl vor mehr als 100 Unternehmern meldet sich ein älterer Handwerksmeister zu Wort und berichtet von seiner Art der Personalauswahl. Wenn er für seinen Betrieb einen neuen Azubi sucht, wandern zunächst alle Bewerbungen von Mädchen in den Müll, denn Frauen sind bekanntlich keine guten Handwerker. Bei den Jungs springen anschließend all diejenigen über die Klinge, deren Vater kein Handwerker ist. Übrig bleiben dann nur noch ganz wenige, unter denen sich großartige Talente finden lassen. Offenbar glaubt unser Freund an die Existenz eines Handwerker-Gens, das dominant in der männlichen Linie vererbt wird.
Beispiel 4: In einem anderen Unternehmen muss der Personaler alle Namen der Bewerber auf ein Blatt Papier schreiben, damit der Personalchef anschließend auspendeln kann, wer zum Interview eingeladen wird – kein Witz!
Beispiel 5: Bei einer großen Veranstaltung mit mehreren Hundert Zuhörern aus der Personalszene berichtet der Personalchef eines großen Mittelständlers davon, dass er sich im Interview immer anschaut, in welche Richtung die Bewerber blicken, während sie seine Fragen beantworten. Schaut ein Bewerber nach links, so weiß der Experte, dass der Bewerber gerade lügt.
Diese Liste ließe sich noch sehr lange weiterführen. Jede dieser Methoden ist so absurd, dass selbst Erstsemester nur mit Unverständnis und Kopfschütteln reagieren. Würde man hingegen die Protagonisten fragen, so würden sie aus voller Überzeugung für ihre Methode eintreten. Und warum? Weil sie selbst unzählige Male erlebt haben, dass es funktioniert.
Wissenschaftlich erklärter Selbstbetrug
Bei dieser Form des Selbstbetrugs hilft ihnen unter anderem ein Prozess, der in der Psychologie als hypothesengeleitete Wahrnehmung oder Confirmation Bias bezeichnet wird.
Am Anfang steht eine mehr oder minder verrückte Hypothese, zum Beispiel die, dass man an der Art und Weise, wie ein Bewerber aus dem Auto aussteigt, etwas über seine Eignung erfahren kann.
Im Einstellungsinterview wird die Hypothese nun überprüft. Da das Interview in der Regel fast keinerlei Struktur aufweist, hat der Interviewer zahlreiche Möglichkeiten, die Sache so zu drehen, dass er am Ende seine Hypothese bestätigen kann. Glaubt er beispielsweise, einem ungeeigneten Bewerber gegenüber zu sitzen, so verhält er sich unfreundlich und ist kurz angebunden. Gibt der Bewerber eine schlechte Antwort, wird dies als Bestätigung der Hypothese verzeichnet. Gibt er eine gute Antwort, so hakt der Interviewer kritisch nach. Glaubt er hingegen an die besondere Eignung der Person, so verläuft das Interview viel freundlicher und damit wird es auch leichter, gut abzuschneiden. Der Interviewer stellt einfachere Fragen und hakt auch nicht kritisch nach. Ist die Antwort gut, freut er sich seiner großen Menschenkenntnis. Fällt die Antwort schlecht aus, wird dies auf die besondere Aufregung des Kandidaten geschoben. Notfalls hilft der Interviewer noch ein wenig nach. Am Ende kommt das raus, was der Interviewer von vornherein erwartet hat.
Je häufiger die eigene Überzeugung auf diesem Wege scheinbar objektiv bestätigt wurde, desto mehr verfestigt sie sich und desto unmöglicher wird es, sie als falsch zu erkennen. Selbst wenn einmal ein scheinbar geeigneter Bewerber so offenkundig versagt, dass auch der Interviewer es nicht mehr leugnen kann, gilt der Fall als seltene Ausnahme einer an sich grandiosen Auswahlstrategie.
Dumm gelaufen!
Der Kolumnist Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.
Schauen Sie auch einmal in den Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, wie Sie gute von schlechten Testverfahren unterscheiden, warum Manager scheitern, warum die Aussagekraft von graphologischen Gutachten ein Mythos ist oder was Sprachanalysen über die Persönlichkeit aussagen können.