Wenn 10.000 Juristen fehlen
Noch vor zehn Jahren mussten Juristen mindestens ein „Vollbefriedigend“ als Abschlussnote im ersten und zweiten Staatsexamen aufweisen, um relativ sicher einen Job zu bekommen. Diese Zeiten sind lange vorbei. Der Fachkräftemangel macht auch vor dem juristischen Arbeitsmarkt nicht Halt. Weniger Absolventen verlassen mit zweitem Staatsexamen die Hochschulen, noch weniger davon sind dazu bereit, 60 Stunden pro Woche zu arbeiten.
Der Arbeitsmarkt für Juristen dreht sich
Laut aktuellen Prognosen werden in Deutschland bis 2030 rund 40 Prozent der Juristen aus dem Dienst ausscheiden, womit die Justiz mehr als 10.000 Richter und Staatsanwälte verliert. Bei diesem massiv erhöhten Bedarf müssen sich auch Kanzleien, Unternehmen und Verbände geschickt positionieren, um genügend gut ausgebildete Juristen zu finden. Doch noch haben sie ihr Recruiting nicht an die veränderten Marktbedingungen angepasst. Sie setzen weiterhin auf die Faktoren Geld und Karriere, doch diese sind heute für die Arbeitgeberwahl nicht mehr entscheidend.
Das bestätigt eine Analyse des Nutzerverhaltens der monatlich rund 100.000 Webseiten-Besucher von Talentrocket, einer Karriereplattform von Juristen: Beiträge, in denen sich Juristen-Arbeitgeber von Klischees im juristischen Arbeitsalltag wie der 60-Stunden-Woche distanzieren, werden bis zu zehnmal häufiger gelesen als Artikel zu anderen Themen. Außerdem fällt auf, dass die Nutzer jene Bereiche der Webseite besonders häufig nutzen, in denen es um Einblicke in die konkrete Arbeitsatmosphäre bei juristischen Arbeitgebern geht. Für den juristischen Nachwuchs sind bei der Arbeitgeberwahl eben nicht mehr allein Gehalt und Karriere ausschlaggebend.
Worauf der juristische Nachwuchs Wert legt
Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt die begleitende Umfrage unter knapp 200 Berufsanfängern: Auch wenn das Gehalt für viele weiterhin der wichtigste Grund für einen Jobwechsel ist, so steht für fast 65 Prozent der Befragten das Verhältnis zu den Vorgesetzten an zweiter Stelle. An dritter Stelle folgen die Kollegen mit über 55 Prozent.
Auch die zunehmende Bedeutung der Work-Life-Balance für die Arbeitgeberwahl von Juristen wird durch die Umfrage bestätigt: Für 52 Prozent der Befragten wären „zu lange Arbeitszeiten“ ein Grund für einen Jobwechsel. Die neue Generation der Juristen legt zudem Wert auf flache Hierarchien (65 Prozent) und Selbstbestimmung (52 Prozent).
Die Arbeitgeber gehen nicht mit der Zeit
Um die Arbeitgeberperspektive zu ermitteln, wurden die Arbeitgeberprofile von rund 200 Kanzleien und Unternehmen analysiert und zusätzlich 50 Arbeitgeber befragt. Angesichts der Arbeitsmarktlage ist erstaunlich, dass ein Großteil der befragten Arbeitgeber das Employer Branding und die Stärkung der eigenen Arbeitgebermarke eher für unwichtig hält.
Auch hinsichtlich des Bewerbungsprozesses stehen juristische Arbeitgeber hinter den aktuellen Erkenntnissen und Erfahrungen zurück: Ein großer Teil der Unternehmen und Kanzleien nutzt weiterhin Online-Bewerbungsformulare, obwohl Bewerber-Befragungen zeigen, dass diese heute als ineffizient angesehen werden und zu hohen Abbruchraten führen.
Die Bereitschaft der juristischen Arbeitgeber, selbst auf die Suche nach Kandidaten zu gehen, ist noch gering. Wie die Arbeitgeber-Befragung zeigt, fehlt entweder das Wissen um die richtige Nutzung entsprechender Kanäle oder schlichtweg die Bereitschaft, solche Kanäle zu nutzen. Fast 65 Prozent der befragten Kanzleien nutzen keinerlei Maßnahmen der proaktiven Suche, obwohl sie einen Mangel an guten Bewerbungen verzeichnen. Headhunter werden von weniger als 40 Prozent eingesetzt.
Probleme beim Finden und Binden von Juristen
Bislang haben die Arbeitgeber vornehmlich mit Gehaltserhöhungen auf die Probleme beim Recruiting von Juristen reagiert. 90 Prozent der länger auf Talentrocket vertretenen Arbeitgeber haben die Gehälter in den vergangenen Jahren erhöht – nach eigenen Angaben ohne spürbare Wirkung auf die Bewerberzahlen. Rund drei Viertel der befragten Arbeitgeber erhalten nicht ausreichend qualitative Bewerbungen für die von ihnen ausgeschriebenen Stellen.
Zusätzlich zu den Schwierigkeiten im Recruiting stehen juristische Arbeitgeber heute vor allem vor der Herausforderung, Talente langfristig an sich zu binden. Viele der befragten Kanzleien berichten davon, dass die Fluktuation in ihrem Haus in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen ist. Allerdings evaluiert lediglich die Hälfte der Arbeitgeber, weshalb Arbeitnehmer kündigen.
Angebote und Nachfrage passen nicht mehr zusammen
Die Studienergebnisse zeigen: Das Arbeitgeber-Angebot und die Arbeitgeber-Kommunikation auf der einen Seite und die Bewerber-Ansprüche auf der anderen Seite passen nicht mehr so recht zusammen. Arbeitgeber, die sich nicht an die geänderten Marktbedingungen und Erwartungen anpassen, haben das Nachsehen. So gaben 30 Prozent der befragten Juristen an, sich nicht aktiv für ihre Anwalts- und Wahlstation im Referendariat beworben zu haben, sondern von ihrem Arbeitgeber angesprochen worden zu sein.
Fünf Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber
Auf Basis der Studienergebnisse haben Sebastian von Glahn, Geschäftsführer von Talentrocket, und Studienautorin Carina Knipping Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber von Juristen formuliert:
- Setzen Sie auf Employer Branding: Eine wertebasierte Definition der eigenen Arbeitgebermarke ist essenzieller Bestandteil, um potenzielle Talente für sich zu gewinnen und ein unentbehrliches Werkzeug der Mitarbeiterwerbung.
- Sorgen Sie für ein effizientes Bewerbungsverfahren: Gelingt es Ihnen, juristische Talente von der eigenen Marke zu überzeugen, so darf die Bewerbung in keinem Fall an einem komplizierten und zu langsamen Bewerbungsprozess scheitern.
- Betreiben Sie langfristiges Talent Relationship Management: Durch den langfristigen Beziehungsaufbau zum juristischen Nachwuchs können Sie Ihre arbeitgeberspezifischen Werte frühzeitig an potenzielle neue Mitarbeiter herantragen.
- Beginnen Sie mit Active Sourcing: Die veränderte Arbeitsmarktlage macht es erforderlich, aktiv zu werden, vielversprechende Kandidaten zu identifizieren und anzusprechen. Wer proaktiv handelt, sichert sich einen Wettbewerbsvorteil gegenüber weniger fortschrittlichen Arbeitgebern.
- Sorgen Sie für eine gute Mitarbeiterbindung: Laut Studie informieren sich 70 Prozent aller juristischen Arbeitnehmer nach der Arbeitsaufnahme weiterhin über Jobangebote. Zu den wichtigen Maßnahmen für eine gute Mitarbeiterbindung zählen Kommunikation auf Augenhöhe, flache Hierarchien, flexible Arbeitszeitmodelle und Homeoffice-Angebote.
Das könnte Sie auch interessieren:
-
Workation und Homeoffice im Ausland: Was Arbeitgeber beachten müssen
2.250
-
Essenszuschuss als steuerfreier Benefit
1.525
-
Vorlage: Leitfaden für das Mitarbeitergespräch
1.454
-
Probezeitgespräche als Feedbackquelle für den Onboarding-Prozess
1.434
-
Ablauf und Struktur des betrieblichen Eingliederungsmanagements
1.411
-
Krankschreibung per Telefon nun dauerhaft möglich
1.346
-
BEM ist Pflicht des Arbeitgebers
991
-
Checkliste: Das sollten Sie bei der Vorbereitung eines Mitarbeitergesprächs beachten
724
-
Das sind die 25 größten Anbieter für HR-Software
497
-
Modelle der Viertagewoche: Was Unternehmen beachten sollten
458
-
Vorlage: Leitfaden für das Mitarbeitergespräch
21.11.2024
-
Mitarbeitergespräche führen
21.11.2024
-
Checkliste: Das sollten Sie bei der Vorbereitung eines Mitarbeitergesprächs beachten
21.11.2024
-
Regeln für eine erfolgreiche Gesprächsführung bei Mitarbeitergesprächen
21.11.2024
-
Fachkräftemangel durch Managementfehler
21.11.2024
-
Diese Stars der HR-Szene sollten Sie kennen
19.11.2024
-
Wo die bAV hinter eigenen Ansprüchen zurückbleibt
19.11.2024
-
Wie KI dem sozialen Miteinander am Arbeitsplatz schaden kann
15.11.2024
-
"Wir sollten uns größere Sprünge zutrauen"
14.11.2024
-
Wie der Führungswechsel im Mittelstand gelingen kann
13.11.2024