Das Ziel: Autisten in den ersten Arbeitsmarkt vermitteln
Haufe Online-Redaktion: Sie haben 2011 das Unternehmen Auticon gegründet – ein IT-Dienstleister, der ausschließlich Menschen mit Autismus als IT-Consultants beschäftigt. Was hat Sie dazu angetrieben nun Anfang 2017 zusammen mit René Kuhlemann auch noch Diversicon – eine Art Personalvermittlung für Autisten – zu gründen?
Dirk Müller-Remus: Bei Auticon sind Autisten als IT-Berater fest angestellt, deren Leidenschaft im Spezialinteresse IT liegt. Dieses Spezialinteresse haben etwa zehn Prozent Prozent der Autisten. Für die 90 Prozent der Autisten mit Stärken außerhalb der IT können wir mit Diversicon etwas tun. Schließlich sind zirka 85 Prozent aller Autisten in Deutschland arbeitslos. Mit Diversicon haben wir die Möglichkeit, Autisten entsprechend ihrer Fähigkeiten in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln.
Haufe Online-Redaktion: Wie genau wollen Sie dabei vorgehen?
Müller-Remus: Wir werden zunächst die potenziellen Mitarbeiter mit Autismus in unsere Academy in zwei Monaten weiterqualifizieren. Danach übernehmen wie sie als Zeitarbeitnehmer. Dabei agieren wir vermittlungsorientiert – das heißt, unser Ziel ist erst dann erreicht, wenn wir den Fachkräften einen festen Arbeitsplatz vermitteln konnten. Am Arbeitsplatz werden sie von unseren Jobcoaches begleitet.
Das Ziel des Startups Diversicon ist es, Menschen mit Autismus eine berufliche Zukunft zu bieten.
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Haufe Online-Redaktion: Welche Fähigkeiten vermitteln Sie den Autisten in der Academy?
Müller-Remus: Unsere Erfahrung zeigt, dass Autisten auf enorme Probleme im Berufsalltag stoßen, wenn man sie nicht in Sozial- und Methodenkompetenzen schult. Wir machen sie also in der Academy fit für den Arbeitsmarkt, indem wir ihnen Schulungen im Projektmanagement und für Präsentationen bieten. Wir schulen sie darin, ihre eigene Meinung äußern zu können und auch darin, wie sie sich abgrenzen können, wenn sie zu viele Aufgaben parallel angetragen bekommen. Denn das ist eines der Hauptprobleme: Autisten geraten schnell in einen „Overload“. Mit unserer Hilfe lernen sie, gar nicht erst in eine solche Situation zu geraten. Wir geben ihnen Checklisten, wie sie in entsprechenden Situationen reagieren können. Hier spielt es auch eine große Rolle, dass 20 bis 30 Prozent der Schulungen von Autisten mit Berufserfahrung gehalten werden.
Haufe Online-Redaktion: Können Sie garantieren, dass alle Teilnehmer nach dieser Qualifizierung fit für den Arbeitsmarkt sind?
Müller-Remus: Wir haben in den zwei Monaten viel Zeit, um die Teilnehmer zu beobachten und können dann sehr gut einschätzen, ob sie fachlich geeignet und persönlich stabil genug sind. Wer sozusagen den Stempel „Geeignet für den ersten Arbeitsmarkt“ noch nicht erhält, kann an weiteren Nachschulungen teilnehmen oder wir empfehlen erst einmal eine Ausbildung oder ein bestimmtes Studium.
Haufe Online-Redaktion: Sie haben erwähnt, dass sie den Absolventen der Academy später Jobcoaches an die Seite stellen, wenn sie in die Arbeit einsteigen. Wie helfen diese Coaches weiter?
Müller-Remus: Das ist ein wesentlicher Punkt bei der Arbeit von Diversicon. Wir können schließlich nicht aus einem Autisten einen Nicht-Autisten schulen. Der Jobcoach fungiert als Schnittstelle zwischen Arbeitgeber und Mitarbeiter. Er ist bei Problemen für den Autisten immer ansprechbar und kümmert sich im Unternehmen darum, das Umfeld einzubinden. Denn häufig wollen Autisten nicht stigmatisiert werden und verschweigen darum ihre Behinderung. Das funktioniert aber auf Dauer nicht. Wenn der Jobcoach entsprechende Transparenz herstellt, schafft er auch das nötige Verständnis bei Arbeitgeber und Kollegen.
Haufe Online-Redaktion: Das heißt, ein potenzieller Arbeitgeber muss viel Bereitschaft mitbringen, die Schwächen von Autisten im Arbeitsleben zu verstehen und zu tolerieren. Lohnt sich das denn auch betriebswirtschaftlich?
Müller-Remus: Auf jeden Fall! Es ist mir sehr wichtig zu zeigen, dass Autisten einen großen betriebswirtschaftlichen Mehrwert bieten. Die Stärken von Autisten sind individuell unterschiedlich, meistens besitzen sie ein ausgeprägtes logisches Denkvermögen und eine hohe Konzentrationsfähigkeit sowie Ausdauer bei Routineaufgaben. Sie sind in der Regel sehr loyal und zuverlässig und besitzen ein umfassendes Sachwissen. Und gerade Asperger-Autisten, auf die wir uns zu Beginn konzentrieren werden, besitzen ein absolutes Alleinstellungsmerkmal: Sie beherrschen die Mustererkennung. Sie ist definiert als die Fähigkeit, unbekannte oder verdeckte Strukturen und Zusammenhänge auf Basis von komplexen und / oder großen Datenmengen zu erkennen und davon ausgehend sinnvolle Schlussfolgerungen zu ziehen oder Lösungen zu finden. Sie haben eine Art intrinsisches Qualitätsbewusstsein: Sie suchen nicht unbedingt nach Fehlern, aber sie finden sie. Das ist eine sehr große Stärke.
„Autisten bieten einen großen betriebswirtschaftlichen Mehrwert für Unternehmen.", so Dirk Müller-Remus, Diversicon.
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Haufe Online-Redaktion: Das lässt sich in der Softwareentwicklung auf Codierarbeiten leicht übertragen. Aber welche Einsatzbereiche sind denn für Autisten außerhalb der IT geeignet?
Müller-Remus: Hier lassen sich das Risikomanagement im Versicherungs- und Finanzwesen nennen, die Aufdeckung von Betrugsfällen. Auch medizinische Bildgebungsverfahren und die Analyse von medizinischen Datenbanken zur Ableitung von Mustern sowie Fahrassistenzsysteme und Robotertechnik wären Einsatzgebiete.
Haufe-Online-Redaktion: Auf welche Resonanz stößt Diversicon bisher? Sie sind ja noch im Aufbau…
Müller-Remus: Wir haben schon einige Anfragen von Unternehmen erhalten und wir wissen, dass viele Autisten bereits mit den Hufen scharren; sie haben eine große Erwartungshaltung. Auch unsere Crowdfunding-Aktion auf Companisto.de ist auf große Resonanz gestoßen. Hier konnten wir nach zehn Tagen bereits 250.000 Euro erzielen - was uns sehr freut. Mit dem Geld werden wir nun die Zertifizierung unserer Academy weiter vorantreiben. Diese benötigen wir, um mit der Bundesagentur für Arbeit zusammenzuarbeiten. Die Teilnehmer können dann die Schulungen über Bildungsgutscheine bezahlen. Auch müssen wir mit den Investitionen noch Kompetenz im Bereich Zeitarbeit ins Unternehmen holen. Dann starten wir mit dem Piloten in Berlin. Später wollen wir deutschlandweit vertreten sein, um dort zu sein, wo die Autisten sind. Denn wir können schlecht Jobs vermitteln, für die ein Autist umziehen müsste. Außerdem planen wir mittelfristig Menschen mit anderen psychologische Störungsbilder einzubinden. So kann ich mir sehr gut vorstellen, Menschen mit ADHS mit Autisten zusammen zu vermitteln. So würden wir die Kreativität von Menschen mit ADHS mit der Analytik von Autisten kombinieren – das könnte gut funktionieren.
Das Interview führte Kristina Enderle da Silva, Redaktion Personalmagazin.
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