Machtvoll agil
Der Ruf nach mehr Agilität ist lauter denn je. Kaum ein Konzern, der nicht mit einstimmt. Kaum ein Bereich, den es nicht betrifft. Aber wer forschend und beratend in sich agilisierenden Unternehmen unterwegs ist, stellt fest: Es gibt keine agile Transformation, die nicht an harte Hindernisse stößt. Gerade jene Unternehmen, die am engagiertesten gestartet sind, um ihre organisationalen Verkantungen aufzulösen, müssen einsehen: So einfach ist es nicht.
Agilität bringt vier relevante Ungewissheitszonen mit sich
Zwar haben viele Organisationen mittlerweile agile Inseln, die mal besser, mal schlechter arbeiten. Doch an den Rändern dieser neuen Welten kommt es zu Grenzkonflikten, weil die im Großen (noch) bürokratisch tickenden Organisationen wenig mit ihnen anfangen können. Agilität ist eben nicht ansteckend – im Gegenteil.
"Es gibt keine agile #Transformation, die nicht an harte Hindernisse stößt." @JudithMuster und Bennet van Well
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Warum ist das so? Um das zu beantworten, braucht es ein organisationskluges Verständnis von Macht. Ein solches liefert etwa das Machtkonzept der Organisationsforscher Michel Crozier und Ehrhard Friedberg. Demnach erwächst Macht aus der Kontrolle relevanter Ungewissheitszonen: Wer für andere ein Problem lösen kann, aber offen hält, ob er dies auch tut, kontrolliert für sie eine Zone der Ungewissheit – und wird so ein machtvoller Akteur. Vier typische Quellen für Ungewissheitszonen sind besonders relevant, wenn es um das Thema Agilität geht:
1. Veränderte Hierarchien
Agile Modelle setzen in großen Teilen auf Selbstorganisation. Mitunter, wie beispielsweise bei Holokratie, werden Hierarchien sogar weitgehend über den Haufen geworfen. Es verwundert also kaum, dass es zu Abwehrreaktionen ebendieser Hierarchie kommt. Um das Risiko der Selbstorganisation eingehen zu können, brauchen die alten Hierarchen zumindest die Sicherheit, nicht die Verantwortung für etwas übernehmen zu müssen, über das sie dann keine Kontrolle mehr haben. Helfen können Kontrollpunkte auf dem Weg, wie Zwischenziele, kleinere Pilotprojekte oder auch Objectives and Key Results (OKR). Einfach nur zu sagen: "Vertraue mal Deinen Mitarbeitenden! Die wissen schon, wie es geht", greift zu kurz.
2. Neue, machtvolle Experten
Fachexperten werden auch bei agilen Methoden und Modellen benötigt. Denn ausgerechnet die Arbeitsteilung erlaubt es überhaupt erst, Exzellenz auf einem Fachgebiet zu erlangen. Schon bei der Einführung teilautonomer Arbeitsgruppen in den 70er- und 80er-Jahren haben sich innerhalb der Teams, in denen alle alles können sollten, Experten für einzelne, kritische Arbeitsschritte ausgebildet. Diese Erfahrungen bestätigen auch die neuesten Versuche mit der selbstorganisierten Fabrik. Hier bilden sich informal Könner für bestimmte Arbeitsfelder aus – und erlangen neue, informale Macht.
3. Alte Relaisstellen außer Kraft
Agile Methoden stellen den Kunden ins Zentrum. Kurze Testzyklen, Minimal Viable Products (MVP) und Design-Thinking-Sprints nehmen Feedback regelmäßig auf und verarbeiten es direkt. Vorbei sind die Zeiten, in denen nur der Vertrieb den Kunden kannte – und deshalb jede Neuentwicklung mit einem schlichten "Das kauft der Kunde nicht" vom Tisch wischen konnte. Jetzt gibt es eine Mehrzahl von Akteuren, die mit „dem“ Kunden Kontakt haben. Das verändert Machtspiele und erhöht die Komplexität. Hinzu kommt: Wer ist schon "der" Kunde? Zumindest im B2B-Bereich gibt es nun auch auf Kundenseite eine Mehrzahl von Akteuren, die ihre Interessen einbringen wollen.
4. Neue Kommunikationskanäle
In der bürokratischen Organisation ist formal immer klar, wer an wen berichtet. Wenn agile Modelle und Methoden vermehrt auf Projektorganisation und anlassbezogene Zusammenarbeit setzen, müssen Kommunikationskanäle immer wieder neu ausgehandelt werden. Und weil die Arbeitszusammenhänge temporär sind, werden sie selten formal festgelegt. Das erschwert den Akteuren die Orientierung. Es bilden sich daher Machthabende heraus, die Zugänge und Kommunikationskanäle kontrollieren, damit nicht alle mit allen reden müssen. Diese Gatekeeper sind funktional für die Organisation – aber sie haben ihre eigenen Interessen, die man bedienen muss.
Agile Methoden erfolgreich einführen: drei Ansatzpunkte
Der Austausch zwischen den Akteuren wird also auch bei agilen Methoden und Modellen über Machtspiele geregelt. Wer Agilität zum Erfolg verhelfen will, hat damit drei Ansatzpunkte:
1. Die Relevanz der Unsicherheitszone reduzieren
Machthabende können ein agiles Vorhaben (aus-)bremsen, weil man ihre Zustimmung braucht. Will man das eigene Vorhaben gegen deren Interesse voranbringen, kann man versuchen, weitere Akteure mit einzubeziehen – beispielsweise dort, wo formal nur die Zustimmung Einzelner nötig wäre, die Zustimmung eines ganzen Gremiums einholen. Als Legitimation dafür kann gerade jetzt das Label "Agilität" gut genutzt werden. Ein heikles, aber ebenfalls erprobtes Mittel ist es, den Machthabern das Theater eines klassischen Projektes vorzuspielen und auf der Hinterbühne ein agiles Vorhaben zu verwirklichen. Man bedient für die Gremien alle Vorgaben klassischen Projektmanagements mit Meilensteinen und Key Performance Indicators (KPIs). Wenn die Ziele am Ende erreicht wurden, fragt niemand danach, wie sie erreicht wurden.
2. Den Akteur ersetzen oder sein Machtmonopol schwächen
Akteure können ein Vorhaben in der Regel nur deshalb behindern, weil sie das Monopol auf bestimmte Leistungen oder Zugänge haben. Deshalb gilt es bei agilen Methoden oder Modellen darauf zu achten, dass diese Monopole Einzelner möglichst ausgeschlossen werden. Tatsächlich kann man die begeisterten Schilderungen aus postbürokratisch organisierten Unternehmen über die Abwesenheit von Machtspielen und Egoismen aus diesem Blickwinkel zumindest teilweise dem Fehlen von Monopolen zuschreiben. Der Grund: Die Akteure haben einfach weniger Chancen ihre Leistungen und Beiträge ungewiss zu halten. Es gibt schlichtweg zu viele andere, die eine Ungewissheitszonen ebenso gut unter Kontrolle halten.
3. Die Interessen der Akteure verstehen und bedienen
Stakeholder bilden sogenannte "lokale Rationalitäten" aus, die bestimmen, was sie jeweils für richtig ansehen oder für rational halten. Sie tun dies entlang ihrer arbeitsteiligen Aufgaben und Ziele. Wer auf die Beiträge und Zustimmung mächtiger Akteure angewiesen ist, tut also gut daran, herauszufinden, wofür sie sich einsetzen, welche Ziele ihnen gesetzt sind und ob diese durch das Vorhaben gefährdet oder unterstützt werden. Sind die jeweiligen lokalen Rationalitäten einmal ergründet, ist es leichter, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu verständigen. Gewiss führt das dazu, dass man auch seine eigenen ursprünglichen Intentionen anpassen muss. Doch dafür steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man sein Vorhaben auch voranbringen kann – nicht gegen die mächtigen Stakeholder, sondern mit ihnen.
Dieser Beitrag ist erstmals im Personalmagazin 11/2019 erschienen. Lesen Sie die gesamte Ausgabe auch in der Personalmagazin-App.
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