Brauchbare Illegalität
Volkswagen und die Angstkultur: Dieses Wortpaar macht seit Dieselgate die Runde. Und zwar ohne das Wörtchen „auch“, das die Spiegeljournalisten notierten, die Martin Winterkorn 2013 begleiteten und die über seine teils wütenden Brüllausbrüche berichteten: „Auch Angst hält diesen Konzern zusammen.“ Ihr stärkster Ausdruck: Nordkorea ohne Arbeitslager.
Der Begriff der „VW-Angstkultur“ hat sich längst verselbstständigt. Automobilexperte Ferdinand Dudenhöfer diagnostiziert bei VW ein „System der Angst und der chronischen Überforderung“, die Süddeutsche Zeitung spricht von einem „Klima der Angst“, fast alle überregionalen Medien stimmen in diesen Chor ein. Diese Erklärungsmetapher haben inzwischen auch viele Unternehmer übernommen, beispielsweise Endress + Hauser-Chef Matthias Altendorf, der die Unternehmenskultur im eigenen Haus von der Angstkultur bei VW abgrenzt.
Kein Bedürfnis nach externer Aufklärung
Dass sich die Metapher durchgesetzt hat, liegt auch an Volkswagen selbst. Manager und Betriebsräte von VW bleiben bislang auffällig stumm, auch die Personalmanager. Ob sie sich schützend vor ihre Firma stellen oder nichts sagen dürfen, ist schwer zu entscheiden. Niemand wagt sich aus der Wagenburg. Offizielle Statements laufen jedenfalls ausschließlich über die Pressestelle. Dort macht es sich Personalpressesprecher Markus Schlesag allerdings ein wenig einfach, wenn er zur Frage nach der Angstkultur erklärt: „Zur medialen Zuschreibung einer Angstkultur bei Volkswagen hätten sich Kolleginnen und Kollegen sicher geäußert, wenn sie das Bedürfnis danach hätten.“ Der Ende November ausgeschiedene Personalvorstand Horst Neumann, in dessen Verantwortungszeit sich VW-Dieselgate ereignete, hatte das Bedürfnis auch nicht, über die Verantwortung von HR zu reden. Während seiner Amtszeit wollte er sich unseren Fragen jedenfalls nicht stellen, nach Austritt gilt für ihn wie für alle Ex-Vorstandsmitglieder zunächst ein Redeverbot zu aktuellen Vorgängen - was viele Konzerne so handhaben.
Eine offene Kommunikationskultur ist uns in den letzten Wochen bei VW nicht begegnet. Doch ist das wirklich Ausdruck einer „VW-Angstkultur“? Etliche Berater und Hochschullehrer, die den Autokonzern aus der Nähe kennen, stimmen dieser Totalität des Urteils nicht zu. Stark hierarchisch sei das Unternehmen, doch bei 600.000 Mitarbeitern und Managern gebe es unterschiedliche Kulturen. Sie bringen andere Erklärungsmuster für VW-Dieselgate ins Spiel.
VW ordnet sich in Reihe der Konzernskandale ein
So holt Stefan Kühl, Soziologieprofessor an der Universität Bielefeld, die Arbeit von Joseph Bensman und Israel Gerver aus dem Jahr 1963 hervor. Die Wissenschaftler beschreiben, wie in einer US-amerikanischen Kampfflugzeugfabrik trotz eines strikten Verbots Gewindebohrer eingesetzt werden, um Ungenauigkeiten zu kaschieren und Zeitvorgaben einzuhalten – und das mit Wissen der Vorarbeiter und fabrikeigenen Inspekteure. Betrogen werden also die Kontrolleure der Luftwaffe. Für Kühl haben die Forscher gezeigt, „dass viele informale Erwartungen nur unter Verletzung der formalen Erwartungen erfüllt werden können“. Niklas Luhmann, längst ein Klassiker unter den Systemtheoretikern, sprach von „brauchbarer Illegalität“. Kühl behauptet, dass Regelverstöße selten einfach von oben angeordnet werden, sondern sich einschleichen – allerdings mit dem Wissen vieler Mitarbeiter und Manager. Er vergleicht den Skandal um den Bayer-Blutfettsenker Lipobay und den Untergang des Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia, die Siemens-Schmiergeldaffäre und die Zinsmanipulation der Deutschen Bank in der Struktur mit dem Abgasbetrug von VW. In diese Reihe passt auch der Telekom-Datenskandal, bei dem Kunden und Arbeitnehmer bespitzelt wurden und der 2009 aufgedeckt wurde.
Dem Soziologen geht es nicht um moralische Kategorien, wenn er beschreibt: „Großzügige Gesetzesinterpretationen wie kleine Regelabweichungen sind für Organisationen gleichermaßen funktional und werden daher geduldet.“ Das Gegenteil – Dienst nach Vorschrift – sei für Unternehmen weitaus gefährlicher. Vielmehr gehe es um das Managen der brauchbaren Illegalität, um das Ausloten von innovativen Wegen und der Ausnahmen von der Regel. Aber genau dort fehle, so Kühl „den Führungskräften die Expertise“.
Korpsgeist und Tabus
Auch Organisationsentwicklerin Jutta Rump bestätigt aus ihrer Forschung und Praxisbeobachtung, dass sich die Strukturen von Volkswagen und anderen Großunternehmen ähneln: „In Konzernen herrschen Hierarchien und Hierarchiegläubigkeit.“ In der Konkurrenz von gesetzlichen Bestimmungen und Kostendruck, allgemeinen Normen und Leistungszielen kann das Unrechtsbewusstsein bei Führungskräften und Mitarbeitern sinken. „Da braucht es keine Angstkultur“, sagt die Professorin an der Hochschule Ludwigshafen. „Pragmatik und Loyalität erzeugen ein Alle-im-selben-Boot-Gefühl, ein gemeinsames Tabu verhindert das Ausplaudern des Regelverstoßes.“ Dieser ungute Zusammenhalt entsteht unter einer homogenen Führung besonders leicht. Jutta Rump nennt einen Ausweg: „Diversität mindert das Risiko von Regelverstößen eher als ein Team aus Führungskräften, die alle gleich ticken, zum Beispiel sehr technikverliebt sind und damit Erfolg haben.“
Recruiting gehört auf den Prüfstand
Doch Diversität setzt systematische Auswahl und Förderung von Managern voraus, die quer zum Gewohnten stehen. Die Abteilung Personal aber hat in der Auswahl gemeinhin wenig Einfluss. Jedenfalls im oberen Management größerer Unternehmen. „HR sitzt ab dem Mittelmanagement aufwärts nicht mit am Tisch“, erzählt Marcel Derakhchan, geschäftsführender Gesellschafter des Personalberaters Lab & Company München. Uwe Kanning, Wirtschaftspsychologe an der Hochschule Osnabrück, hat diese Erfahrung auch gemacht und findet es „verrückt, dass man ganz oben aus dem Bauch heraus entscheidet, aber bei Azubis Auswahlverfahren nutzt“. Noch immer werde unbewusst ein maskuliner Körperbau mit Führungsstärke gleichgesetzt und gutes Aussehen mit Intelligenz. „Man sucht Macher“, sagt der Personaldiagnostiker und vermisst strukturierte Verfahren, mit denen analysiert werden kann, ob Manager in den extrem komplexen Arbeitsbedingungen bestehen können. Intelligenz und Leistungsmotivation, Gewissenhaftigkeit und Kommunikationsfähigkeit sollten auch in den oberen Etagen systematisch getestet werden. Konzerne wie VW müssen ihr Recruiting auf den Prüfstand stellen.
Manager in der Beschleunigungsfalle
Sind die Manager erst auf ihren Posten, treffen sie auf Effizienzdruck, Innovationswettbewerb und ambitionierte Unternehmensziele. Auch hier steht Autobauer VW nicht einsam auf weiter Flur. In 50 Prozent der Firmen wird der Druck nicht produktiv gehandhabt, so Heike Bruch, und führt in die Beschleunigungsfalle. Dies ist eine „kollektive Überhitzung, in der Führungskräfte oft nicht mehr fragen, ob sie das Richtige tun, ob etwas überhaupt geht und sie das vertreten können“. Einen wesentlichen Anteil an dem vermeintlichen Dilemma haben Manager an der Spitze und das Top-HR-Management. Der Vorstand muss den Sinn der Ziele vermitteln, Werten eine zentrale Rolle geben und konsequent Prioritäten definieren. Er darf nicht mit einer Flut an Kennzahlen und überhöhtem Druck führen. „Wenn wirtschaftlicher Erfolg nicht auf Kosten der Werte gehen soll, werden das Was und das Wie gleichermaßen bewertet“, sagt die Professorin für Leadership an der Universität St. Gallen. Klare Spielregeln für das Verhalten müssen mehr sein als ein unverbindlicher Vorschlag. Sie müssen sich auch in der Leistungsbeurteilung und in Zielvereinbarungen wiederfinden. Heike Bruch: „Auf den Punkt gebracht: Wer bestochen hat, darf keine Karriere machen. Leistung darf sich nicht auf Kompromisse in Integrität und Anstand stützen.“
Vergütungssystem fehlt Verhaltensdimension
Auch das Vergütungssystem von Volkswagen gehört auf den Prüfstand, wie uns Vergütungsexperten – die namentlich nicht genannt werden wollen - erläutern. Die variablen Vergütungsbestandteile des Vorstandes und der oberen Führungskräfte honorieren überwiegend die positive Geschäftsentwicklung, Verhaltensaspekte – die VW jetzt in die Krise stürzten – haben im Anreizsysteme allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle.
Der „Long Term Incentive (LTI)“, der die Langfristorientierung fördert, macht einen beträchtlichen Anteil an der Gesamtvergütung aus: Bei Horst Neumann beispielsweise waren das im Jahr 2014 immerhin 30 Prozent des Gesamtgehalts. Gemessen wird der LTI an vier Indices: Wachstumssteigerung, Rendite, Kundenzufriedenheit und Mitarbeiterzufriedenheit (Stimmungsbarometer).
Im Stimmungsbarometer soll sich auch das Verhalten der Führungskräfte niederschlagen. Bei wachsender Beteiligung anonym befragter Mitarbeiter stieg der Index seit 2008 von 72 auf 79. Das sind blendende Werte, auf die VW gerne verweist. Offen ist jedoch, ob sich hier mehr der wirtschaftliche Erfolg und die Sicherheit der Arbeitsplätze ausdrückt als die Entwicklung des Führungsverhaltens. Das müssten Detailanalysen zeigen, die VW der Öffentlichkeit bislang nicht zur Verfügung stellt.
Doch der LTI bei VW hat noch einen „Konstruktionsfehler“, der jetzt bei der Krise deutlich wird: Bewertet wird der Erfolg in den letzten vier Jahren, die Zukunftsfähigkeit wird damit nicht wirklich abgebildet. Die absurde Folge: Für das Geschäftsjahr 2015 haben Vorstand und obere Führungskräfte beim LTI nur mit überschaubaren Einbußen zu rechnen.
HR-Welt in Ordnung?
Elke Eller, bis vor kurzem Personalvorstand bei VW-Nutzfahrzeuge und Präsidentin des Bundesverbandes der Personalmanager, sieht im Interview mit haufe.de keine unmittelbare Verantwortung von HR für VW-Dieselgate: „Nach allem, was man heute weiß, glaube ich aber nicht, dass die HR-Organisation der entscheidende Hebel ist, um zu verhindern, was passiert ist. Das ist keine Frage der HR-Struktur, sondern ein generelles Organisationsthema.“
Hoffnung auf Blessing
Welche Verantwortung HR für die Organisationsentwicklung und die Unternehmenskultur hat, darauf bleibt sie die Antwort schuldig. In unseren Gesprächen mit Experten von außerhalb haben wir eine Reihe von Ansatzpunkten im Verantwortungsbereich von HR gefunden, die überprüft werden sollten. Innerhalb von Volkswagen gibt es zwar einige HR-Manager, die Transparenz und Offenheit einfordern, doch noch haben andere das Sagen. VW-Chef Matthias Müller mahnt den Wandel an und fordert mehr Dezentralität und mehr Entscheidungsfreiheit an der Basis. Wie ernsthaft und schnell die Unternehmenskultur verändert werden kann, wird jetzt auch davon abhängen, ob der neue Personalvorstand Karlheinz Blessing die zentralen Führungs- und Steuerungsinstrumente erneuern wird, in denen sich die bisherige VW-Kultur ausdrückt. Bis er an Bord ist, halten sich jedenfalls die Erneuerer in HR noch in Deckung.
Ein Bericht von Ruth Lemmer, freie Journalistin in Düsseldorf, und Reiner Straub, Herausgeber des Personalmagazins.
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