Kann HR Nachhaltigkeit?
Nachhaltigkeit wird mehr und mehr zur Handlungsmaxime unternehmerischer Tätigkeit. Der Global Risk Report 2021 des Weltwirtschaftsforums von Marsh McLennan definiert die Herausforderungen für die Weltgemeinschaft: Ein Scheitern der Klimaschutzmaßnahmen, Beschäftigungs- und Existenzkrisen sowie die Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind systemische Risiken und bedrohen unsere wirtschaftliche Entwicklung und unseren Wohlstand.
Covid-19 macht die Abhängigkeit von gesunden Gesellschaften, stabilen Volkswirtschaften und der Umwelt deutlich. Die Pandemie hat weltweit deutliche Missstände aufgezeigt, welche die Zukunft vieler Menschen belasten. Darüber hinaus hat sie den Unternehmen und den Beschäftigten gezeigt, was bei der Gestaltung der Zukunft der Arbeit möglich und wünschenswert ist – von der Digitalisierung der Zusammenarbeit bis hin zu flexiblen Arbeitsmöglichkeiten. HR hat sich als Krisenmanager etabliert und in vielen Unternehmen deutlich an Einfluss gewonnen.
#HR hat sich als #Krisenmanager etabliert und in vielen Unternehmen deutlich an Einfluss gewonnen. @mercer_de
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Auch Investoren orientieren sich zunehmend an Nachhaltigkeitskriterien – ESG-Ratings (kurz: Environmental, Social, Governance) haben an Bedeutung für Investitionsentscheidungen gewonnen. Immer mehr Menschen wollen eine angemessene Rendite erzielen und gleichzeitig verantwortungsbewusst investieren. Einige Vermögensverwaltungen haben bereits einen Termin benannt, ab dem ihr komplettes Investmentportfolio CO2-neutral sein wird. Der Zugang zu Finanzierung wird also in nicht allzu ferner Zukunft von der Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells abhängen.
Gleichzeitig nimmt die Regulatorik eine neue Dynamik auf, sowohl in der EU als auch auf Staatenebene. Der 2015 verabschiedete "UK Modern Slavery Act" und das 2021 in Deutschland verabschiedete Lieferkettengesetz nehmen Unternehmen und ihre Zulieferer in die unternehmerische Verantwortung – nicht nur für ökologische, sondern auch für soziale Nachhaltigkeit. Plötzlich steht dadurch HR im Rampenlicht: Wo entstehen neue Arbeitsplätze? Wie fair wird Arbeit entlohnt? Wie verantwortungsvoll wird mit dem Erhalt oder Abbau von Arbeitsplätzen umgegangen?
HR in der Verantwortung für Nachhaltigkeit
Neben dem sich verändernden Investment-Verhalten und zunehmender Regulatorik baut sich für Unternehmen der Druck noch an anderer Stelle auf. Seit Jahren wächst weltweit die Präferenz für Arbeitgeber mit ökologischer und sozialer Verantwortung. So wird das öffentlich wirksame Bekenntnis zu Nachhaltigkeit aus der subjektiven Perspektive junger, gut ausgebildeter Menschen zum Prüfstein bei der Wahl ihres Arbeitgebers. Was hier zusammenkommt, ist eine Dynamik, der sich kein Unternehmen mehr entziehen kann. Der Druck von Konsumentinnen und Konsumenten, Mitarbeitenden, Kapitalmärkten und der Gesetzgebung verstärkt sich gegenseitig. Es gibt immer mehr gesetzliche und freiwillige Standards für Organisationen, um über ihre Nachhaltigkeitsziele und -verpflichtungen zu berichten, sie zu bewerten und anzugleichen – einheitliche internationale Standards fehlen jedoch noch.
ESG-Reports und Aktivitäten für Corporate Social Responsibility gehören inzwischen zum guten Ton und werden auch intern vielerorts prominent kommuniziert und positioniert. Viele Unternehmen haben es sich zum Ziel gemacht, ihre Produkte und Abläufe auf einen mit dem Pariser Klimaabkommen verträglichen Pfad zu bringen. Auch in der Strategieentwicklung nimmt Nachhaltigkeit schon seit Längerem einen festen Platz ein. Verhältnismäßig ruhig ist es in der öffentlichen Wahrnehmung noch um die Rolle von HR in der Frage, wie Unternehmen nachhaltiger werden. So hat laut Mercer Global Talent Trends 2020-2021 bisher nur knapp ein Drittel der Unternehmen ESG-Ziele in die Score Cards von Führungskräften integriert. Fest steht: Nachhaltigkeit ist eine Sache der Einstellungen aller Mitarbeitenden und eine Frage der richtigen Kompetenzen – und damit ist HR in der Pflicht.
Doch inwieweit hat HR das Thema Nachhaltigkeit bereits als strategischen Fokus erkannt? Und wie ist der Reifegrad der Umsetzung? Diesen Fragen sind wir in einer Studie mit Unternehmen im DACH-Raum nachgegangen. Aktuell weiten wir die Studie auf Europa aus.
ESG als Kernpriorität unternehmerischen Handelns
Die gestiegene Priorität von Nachhaltigkeit im unternehmerischen Handeln und der damit verbundene Handlungsdruck wird von einer weiten Mehrheit der HR-Verantwortlichen wahrgenommen. Drei Viertel der befragten Unternehmen geben an, dass ESG bereits jetzt eine Kernpriorität ihres unternehmerischen Handelns darstellt. Als Treiber werden seitens HR vor allem Kundinnen und Kunden (81 Prozent) sowie Shareholder (75 Prozent) wahrgenommen, welche einen erheblichen Einfluss auf die ESG-Aktivitäten der Unternehmen haben. Politik (67 Prozent) und Mitarbeitende (67 Prozent) werden ebenso als signifikante Treiber wahrgenommen, allerdings vergleichsweise weniger dominant. Die Mercer Global Talent Trends zeigen hierzu ebenfalls eine deutliche Dynamik in der Relevanz von ESG für die Arbeitgeberattraktivität: Jeder zweite Mitarbeitende lässt nachhaltigen Rewards, wie beispielsweise gleicher Lohn für gleiche Arbeit oder finanzielle Sicherheit, eine hohe Bedeutung zukommen. 49 Prozent der Mitarbeitenden geben an, Organisationen zu bevorzugen, welche sich aktiv um die Gesundheit und das finanzielle Wohlbefinden ihrer Belegschaft kümmern. Darüber hinaus bevorzugen 37 Prozent der Mitarbeitenden Unternehmen, die sich für Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit einsetzen.
Diesen Handlungsdruck übersetzen rund 61 Prozent der befragten Unternehmen bereits in ihre HR-Strategie. Wie auch in der Vergangenheit rückt der "soziale Aspekt" von ESG bei der Umsetzung dabei in den Schatten der umweltbezogenen Nachhaltigkeit. Nahezu die Hälfte der befragten Unternehmen gibt an, den Fokus ihrer ESG-Aktivitäten voll und ganz auf Themen wie Klima, Ressourcenknappheit, Umweltverschmutzung und Umweltinvestitionen zu richten. Eine zunehmend ausgewogene Herangehensweise bei der ESG-Integration ist zwar zu erkennen – jedoch noch nicht erreicht.
Auch die Kommunikation von ESG-Aktivitäten nimmt eine zentrale Rolle ein. Etwa drei Viertel der befragten HR-Bereiche geben an, die Verknüpfung der ESG-Ziele mit dem Unternehmenszweck für die eigenen Mitarbeitenden sichtbar zu machen. Die Kommunikation außerhalb der eigenen Organisation wird laut den Befragten ebenfalls in vielen Unternehmen angegangen (58 Prozent). Dies zeigt sich insbesondere in der Integration von ESG in die Employer Value Proposition (EVP) der Unternehmen: 57 Prozent der Befragten geben an, ESG als ein wichtiges Kriterium für potenzielle und bestehende Mitarbeitende erkannt und in die EVP aufgenommen zu haben. Auch die Förderung von sozialen Aktivitäten, in der Vergangenheit oftmals unter Corporate Social Responsibility verortet, wird von 69 Prozent der HR-Abteilungen als zentral angegeben.
HR wird der strategischen Treiberrolle noch nicht gerecht
Eine zielgerichtete Operationalisierung von ESG findet hingegen noch nicht übergreifend statt: Die Verankerung von ESG-Zielen in den Zielvereinbarungen von Führungskräften steht für die Mehrheit der befragten Unternehmen noch aus: Lediglich rund ein Fünftel der Teilnehmenden gibt an, die Dimensionen "E", "S" und "G" in den kurz- und langfristigen Führungskräftezielen verankert zu haben.
HR wird somit der Rolle als strategischer Treiber noch nicht gerecht: Es wird zwar angegeben, dass Diversity, Equity & Inclusion (74 Prozent) Bestandteil der ESG-bezogenen Aktivitäten von HR ist. Darüber hinaus ist eine ganzheitliche Umsetzung von ESG als strategisches Fokusthema jedoch nur eingeschränkt zu beobachten. So gibt beispielsweise nur circa ein Drittel der befragten Unternehmen an, die Anforderungen des Lieferkettengesetzes aktiv zu managen ebenso wie die Umsetzung einer sozialen und nachhaltigen Site-Selection-Strategie. Die soziale Verantwortung der Unternehmen konzentriert sich zunächst stärker auf die eigene Belegschaft: Hier wird die Sorgfaltspflicht, allen Mitarbeitenden ein angemessenes Gehalt zu zahlen und für eine angemessene Altersvorsorge zu sorgen, von einer überwiegenden Mehrheit der HR-Mitglieder (86 Prozent) bestätigt.
Die Ergebnisse zeigen, dass Nachhaltigkeit immer mehr Einzug in unser unternehmerisches Handeln und die Agenden der HR-Bereiche hält. HR ist jedoch noch deutlich davon entfernt, das Thema Nachhaltigkeit ganzheitlich zu bespielen und ESG als strategisches Fokusthema zu verankern.
Soziale Nachhaltigkeit ganzheitlich angehen
Wie kann HR von einer eher reaktiven Rolle in eine aktive Gestaltung gelangen und die in der Pandemie gewonnene Führungsrolle behaupten? Der erste Schritt, Nachhaltigkeit in der HR-Strategie zu verankern, ist bei der Mehrzahl der befragten Unternehmen bereits gemacht. Im Zentrum nachhaltiger Veränderung steht der Mensch – deshalb ist es jetzt an HR, sich als Motor insbesondere für das "Social" in ESG zu positionieren. Dafür muss soziale Nachhaltigkeit über die eigenen Mitarbeitenden hinaus ganzheitlich gedacht werden und im Unternehmensalltag verankert sein. Im sorgfältigen Umgang – nicht nur mit der eigenen Belegschaft, sondern entlang der globalen Wertschöpfungskette – zeigt sich das Selbstverständnis des Unternehmens als verantwortungsvoller Arbeitgeber. HR ist hier in der Pflicht, weiter zu denken als der Rest der Organisation und "People Sustainability" federführend zu gestalten.
Dafür gilt es einen Standard für soziale Nachhaltigkeit zu definieren und in die HR-Arbeit zu übersetzen. Gradmesser ist der Umgang einer Organisation mit ihren Mitarbeitenden. Mercer hat dafür ein People-Sustainability-Modell entwickelt, welches Unternehmen einen Rahmen für soziale Nachhaltigkeit bietet. Es folgt dem Ansatz der Maslow'schen Bedürfnispyramide.
People Sustainability umfasst das gesamte unternehmerische Ökosystem
Ziel ist es, unternehmerische Verantwortung für das physische ebenso wie das psychische Wohlergehen der Mitarbeitenden zu übernehmen – und diese in ihrer Diversität wertzuschätzen. Dazu werden im jeweiligen regionalen Arbeitsmarktkontext angemessene Rahmenbedingungen geschaffen. Dies beginnt mit der Einhaltung universeller Menschenrechte, dem Grundbedürfnis nach einem Arbeitsplatz und der damit verbundenen Arbeitsplatzsicherheit. Die zu gewährleistenden Grundbedürfnisse von Mitarbeitenden schließen auf nächster Ebene die physische und psychische Gesundheit ein. Wohlstand und Gesundheit bedeuten jedoch nicht nur körperliche und geistige Unversehrtheit, sondern auch eine angemessene Vergütung der Arbeitsleistung, die ein sorgenfreies Auskommen über die Arbeitszeit hinaus auch im Ruhestand ermöglicht. An der Spitze der Maslow'schen Pyramide steht die Ebene der Selbst-Verwirklichung. Analog dazu gilt es im Rahmen der People Sustainability, den Mitarbeitenden individuelle Weiterentwicklung zu ermöglichen.
Diese bedürfnisorientierten Dimensionen von People Sustainability werden ergänzt durch die normative Dimension von Diversity, Equity & Inclusion. Eine wirkliche soziale unternehmerische Verantwortung im 21. Jahrhundert kann nur dann gewährleistet werden, wenn die Belegschaft die Diversität unserer Gesellschaft abbildet und allen die gleichen Chancen und Möglichkeiten in der Organisation zugesprochen werden. Das heißt Sicherheit, Gesundheit, faire Vergütung und Entwicklung unabhängig von Geschlecht, Ethnie, sexueller Orientierung oder Gesinnung.
Transformation am Horizont: HR als "Culture Shaper"
Nachhaltigkeit als Kernpriorität unternehmerischen Handelns bedeutet in aller Konsequenz einen wesentlichen Wandel in organisationalen Grundannahmen und Handlungsparadigmen. Um im Kern nachhaltig zu werden, ist HR als Gestalter und Förderer einer nachhaltigen Unternehmenskultur gefordert. Das beginnt mit einer konsequenteren Integration von ESG in die Ziel- und Incentive-Systeme, gepaart mit langfristiger Arbeit an der Unternehmenskultur. HR in einer echten Führungsrolle für Nachhaltigkeit kann sich in Zukunft als Vertretung einer klaren Purpose-Orientierung weiterentwickeln, welche Impact und Sinnhaftigkeit des unternehmerischen Handelns nicht nur kommuniziert, sondern auf allen Ebenen auch aktiv einfordert und treibt.
Führung übernehmen für das "S" in ESG
Der Weg in die Gestaltungsrolle beginnt mit einer authentischen Zielbildübung seitens HR, um einen gemeinsamen Ankerpunkt für die ESG-Arbeit zu setzen: Was bedeutet soziale Nachhaltigkeit für die eigene Organisation? Und wie kann ein erstrebenswertes Zielbild aussehen?
HR muss zum Anwalt sozialer Nachhaltigkeit im Unternehmen werden und die Unternehmensstrategie daraufhin ausrichten. Ein enger Schulterschluss zwischen HR und dem Sustainability Management ist zentral, um soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu vereinen. Klar ist, dass eine ökologische Nachhaltigkeit ohne soziale Nachhaltigkeit nicht umsetzbar ist. Es obliegt HR, einen eigenen Leitstern für nachhaltige HR-Arbeit zu definieren. Auf dieser Basis heißt es, den Status quo zu People Sustainability und anschließender Transformationsarbeit systematisch zu erfassen, Fokusbereiche zu priorisieren und umzusetzen. Hier beginnt die konkrete, inhaltliche HR-Arbeit. Eine konsistente Living-Wage-Strategie, Pay-Equity-Analysen oder bedarfsorientierte Gesundheitsprogramme sind konkrete Maßnahmen, soziale Nachhaltigkeit zu fördern. Auf dieser Basis kann eine überzeugende Kommunikation erfolgen – in Richtung Mitarbeitende, Arbeitsmarkt sowie Kapitalmärkte und Regulatorik.
Die Dekade nachhaltigen unternehmerischen Handelns hat gerade begonnen. Das Potenzial für HR ist groß, die gewonnene Führungsrolle im Kontext sozialer Nachhaltigkeit dauerhaft auszufüllen.
Die Autoren: Kai Anderson ist Partner und Transformation Lead International bei Mercer. Carina Sommer ist Senior Transformation Consultant bei Mercer. Gina Fassino ist Consultant bei Mercer.
Dieser Beitrag erschien zuvor in Personalmagazin Ausgabe 2/2022. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.
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