Workforce Management für Blue-Collar-Mitarbeiter

Remote Work und flexible Arbeitszeiten haben die Lebensqualität vieler Beschäftigter stark verbessert. Dabei übersehen Unternehmen jedoch oft diejenigen, die nicht am Schreibtisch arbeiten – mit fatalen Folgen. Was kann HR für Mitarbeitende aus dem Blue-Collar-Bereich tun?

80 Prozent der arbeitenden Bevölkerung weltweit sitzen nicht am Schreibtisch, um ihre tägliche Arbeit zu verrichten – so eine Recherche der Kapitalgesellschaft Emergence. Zu denjenigen, die oft als "Blue Collar" oder auch "Deskless Workforce" bezeichnet werden, zählen unter anderem Beschäftigte in Handwerk, Baugewerbe, Produktion, Gesundheitswesen, Einzelhandel, Gebäudereinigung, Sicherheitsdienst, Gastronomie und Hotellerie sowie Erziehungs- und Sozialberufe. Umso alarmierender ist es, dass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen meist nur auf die Menschen abzielt, für die Gleitzeit und Homeoffice möglich sind. Angesichts der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft stellt sich die Frage, ob HR auch eine indirekte Mitverantwortung dafür trägt, indem ein großer Teil der Arbeitskräfte in ihren Bemühungen übergangen wird. Wie können Unternehmen die Deskless Workforce besser einbinden?

Deskless Workforce und gesellschaftliche Ungerechtigkeit

"Die Covid-19-Pandemie hat eine neue Trennlinie zwischen Menschen gezogen", sagt Autor und Speaker Hans Rusinek, der zum Wandel der Arbeitswelt forscht, berät und schreibt. Remote Work würde zwar manche Ungerechtigkeiten beseitigen – etwa können Eltern im Homeoffice Kinderbetreuung und Beruf besser vereinbaren – für andere verstärke das allerdings auch bestehende Ungerechtigkeiten: Arbeitnehmende, die nicht am Schreibtisch arbeiten, verdienen nicht nur oft weniger, sie sind auch diejenigen, die keine Wahl haben, wo und wann sie arbeiten wollen. "Hier führt New Work direkt zu der Wahrnehmung fehlender Fairness aufseiten des Deskless Workers."

Dabei sind laut Rusinek schon die Bezeichnungen problematisch: Der Begriff "Wissensarbeit", der meist für Berufstätige am Schreibtisch verwendet wird, strotze vor Arroganz. Schließlich erfordere es auch jede Menge Wissen, Brot zu backen, kranke und alte Menschen zu pflegen oder ein Taxi durch die Metropole zu navigieren. Der Begriff "deskless" klinge, als würde ihnen etwas fehlen. Diese Abwertung trage möglicherweise auch zu dem politischen Rechtsruck bei: "Wenn wir genau hinschauen, bemerken wir, dass es im populistischen Groll, der unsere Demokratien erschüttert, sehr oft um Anerkennung für Arbeit jenseits der Wissensarbeit geht." Auf den einschlägigen Demos und in den Kommentarspalten der sozialen Medien sei ständig die Rede von "denen da oben", die "nie richtig gearbeitet haben" oder das "echte Leben" nicht kennen. "Wir haben hier also mit dem Desinteresse an Deskless Work durchaus ein politisches Problem." 

Visionslosigkeit in der Schichtarbeit

Der Arbeitszeitexperte und Berater Guido Zander beobachtet im Blue-Collar-Bereich sowohl aufseiten der Unternehmen als auch der Mitarbeitenden eine gewisse Visionslosigkeit. "Da ist so eine Schicksalsergebenheit, nach dem Motto, ist halt so, kann man ja eh nicht ändern." Wenn er etwa mit Produktionsmitarbeitenden spreche, sagen sie oft, dass sie sich bessere Arbeitsbedingungen wünschen, aber sie sind davon überzeugt, dass es sowieso nicht anders geht. Ähnlich sehe es bei den Personalverantwortlichen und Führungskräften in der Fertigung aus. "Sie suchen oft gar nicht nach neuen Lösungen." Den Ideen aus seinen Impulsvorträgen entgegnen sie oft, dass sie schon immer so arbeiten, wie sie arbeiten. Meist plane man die Abläufe nur im Hinblick auf technische Effizienz und Materialfluss und beachte dabei nicht, wie es den Mitarbeitenden damit geht.

Das könne allerdings auch aus wirtschaftlicher Sicht ein fataler Fehler sein, denn auch in der Produktion herrsche zunehmend ein Fachkräftemangel. Einfache Tätigkeiten werden wegautomatisiert, die Anlagen werden komplexer, deshalb müssen diejenigen, die sie bedienen, höher qualifiziert sein. "Diese Leute wollen aber nicht im Schichtbetrieb arbeiten und finden mit ihrer Qualifikation auch einen Job in einem Ingenieurbüro mit flexiblen Arbeitszeiten und Homeoffice-Option. Das wird für die Unternehmen irgendwann ein Riesenproblem werden." Es sollte also im Interesse der Unternehmen sein, die Arbeitsbedingungen im Schichtbetrieb zu verbessern.

Flexibilisierung und Arbeitszeitreduktion im Blue-Collar-Bereich

Vor allem im Bereich Produktion und Fertigung gibt es dafür laut Zander verschiedene Möglichkeiten. Zum Beispiel ließe sich bei Inselfertigungen mit höherem Puffer planen, was ein gewisses Maß an Gleitzeit ermögliche, weil es dann auch mal kompensiert werden kann, wenn jemand später kommt oder früher geht. Manche Arbeitsplätze könne man auch komplett aus der Taktung herausziehen, weil es nur darum geht, eine bestimmte Anzahl von Teilen am Tag zu produzieren – dabei sei es im Grunde egal, wann die Mitarbeitenden kommen und gehen, solange sie das tägliche Ziel erreichen. "Aber das wird leider noch viel zu wenig gemacht." Auch mit Automatisierung könne man viel erreichen: "Damit könnten auch getaktete Anlagen mehrere Stunden laufen, ohne dass jemand anwesend sein muss." Doch es werde meist nur automatisiert, um Arbeitskräfte zu sparen. "Dass die Automatisierung auch die Basis dafür sein könnte, die Arbeitszeitmodelle zu flexibilisieren, sehen viele gar nicht."

Besonders spannend für den Blue-Collar-Bereich ist eine Reduktion der Arbeitszeit – schon wenige Stunden machen laut Zander einen großen Unterschied, und das ohne Produktivitätsverlust, weil sich dadurch die Krankenquote beachtlich reduzieren lasse. "Unternehmen, die ihre Mitarbeitenden 40 Wochenstunden im Schichtbetrieb arbeiten lassen, haben in der Regel über zehn Prozent Krankenquote, nicht selten sogar 15 Prozent. Bei 35 Wochenstunden liegt die Krankenquote dagegen in der Regel deutlich unter zehn Prozent." Das ließe sich zwar nicht linear weiterführen, es sei nicht so, dass es mit 30 Stunden gar keine Kranken mehr gebe. Aber wenn man von 40 auf 36 oder 35 Stunden reduziere, habe das einen nachweisbaren Effekt. Für die Planung von Dienstplänen, wie etwa in der Pflege, empfiehlt Zander IT-basierte Lösungen wie Apps, in denen Mitarbeitende eintragen können, wann sie bevorzugt eingeteilt werden möchten. 

Das Startup Vote2Work hat eine digitale Lösung für die Einsatzplanung entwickelt und hilft so, Schichtarbeit flexibler zu gestalten. Planungsverantwortliche können über die App Einsatzanfragen an die Beschäftigten schicken, die diese innerhalb einer Rückmeldefrist beantworten, die für alle gleichermaßen gilt. "Bei flexiblen Einsätzen stellt sich immer auch die Frage, wer denn nun die Nachtschicht am Sonntag oder die eher ungeliebte Spätschicht an einem Samstag bekommt. Um hier Konfliktpotenzial oder first come first serve zu vermeiden, haben wir eine Prioritätensteuerung implementiert, die Unternehmen mit Blick auf Fairness-Aspekte unterschiedlich ausgestalten können", erklärt CEO und Gründerin Katrin Pape. "Die so entstehende Flexibilität und der Einbezug von Mitarbeitenden tragen nachweislich zu einer höheren Zufriedenheit am Arbeitsplatz bei und steigern das Commitment zum Arbeitgeber, was wiederum zu einer längeren Betriebszugehörigkeit führt."

Workforce Management für Work-Life-Balance 

Auch bei der Hotelgruppe B’mine ist eine solche Lösung für die nahe Zukunft angedacht. Chief People Officer Peter Rolinski betont, dass bereits jetzt Arbeitszeitkonten in der Hotellerie und Gastronomie eine große Rolle in der Verbesserung der Arbeitsbedingungen spielen. Anders als noch vor ein paar Jahren werde in den meisten Hotels heute jede Minute aufgeschrieben, die man mehr arbeitet. "Bei uns werden diese über ein digitales Zeiterfassungssystem erfasst, was 100 Prozent Transparenz für beide Seiten bedeutet. Mitarbeitende können diese Überstunden oder zusätzliche Schichten auf einem Konto ansparen und diese später als Freizeit abbauen." Mobile Apps zur Schichtplanung und Kommunikation bieten dabei mehr Transparenz und Kontrolle über die Arbeitszeit; Arbeitszeitkonten, Urlaub und Vertragsunterlagen befinden sich an einem Ort.

Auch MAN Energy Solutions bemüht sich um eine gute Work-Life-Balance für die Mitarbeitenden, die nicht am Schreibtisch arbeiten: mit einem Tarifvertrag, der unter anderem eine 35-Stunden-Woche beinhaltet. "Aber das reicht heute nicht mehr aus", sagt Chief Human Resources Officer Ingrid Rieken. Das Unternehmen setzt deshalb vor allem auf Maßnahmen zur Gesundheitsförderung für die Mechanikerinnen, Schweißer, Lageristinnen und Transportmitarbeiter, deren Arbeit meist körperlich anstrengend ist. In regelmäßigen Abständen nimmt eine komplette Schichtgruppe an einer Schulung teil, die eine reguläre Tagesschicht ersetzt. Dort werden sie über schichtrelevante Gesundheitsthemen wie Schlaf, Stressreduktion und Ernährung informiert und bekommen anschließend gesunde und leicht nachkochbare Gerichte zum Mittagessen. Soweit es mit der Tätigkeit vereinbar ist, bietet MAN Energy Solutions auch die Möglichkeit der Gleitzeitnutzung an. Zudem können alle Mitarbeitenden bis zu acht bezahlte Freistellungstage für Kinderbetreuung oder Pflege Angehöriger beantragen. Und Rieken plant weitere Maßnahmen: "Denkbar sind zukünftig auch neue Arbeitszeitmodelle für unsere Mitarbeitenden in der Produktion, unter anderem eine Viertagewoche mit angepasster täglicher Arbeitszeit."

Jessica Richter, Vice President und Global Head of Talent Development bei Infineon, ist sich darüber bewusst, dass bei den Mitarbeitenden in Produktion, Lagerlogistik und Wartung flexible Arbeitszeiten aufgrund des Schichtsystems nur begrenzt möglich sind. Einen gewissen Grad an Selbstbestimmung gibt es dennoch, da Arbeitsplatzeinteilung in Rücksprache mit den Führungskräften erfolgt. Dafür bietet das Unternehmen den Deskless Workers andere Benefits wie zum Beispiel tarifliche Freistellungszeit und die Möglichkeit, ein Sabbatical zu nehmen. Auch Teilzeit ist im Schichtdienst bei Infineon eine vielgenutzte Option. Besonders aber setzt der Halbleiterhersteller auf Angebote zur beruflichen Weiterentwicklung. Dafür gibt es neben internen Trainingsangeboten auch Weiterbildungsdarlehen und Bildungsurlaub. Mitarbeitende haben die Möglichkeit, die Werkmeisterschule zu besuchen, in der Abendschule Abitur zu machen, ein nebenberufliches Studium zu absolvieren und einen einschlägigen Lehrberuf nachzuholen – und das unabhängig davon, wie alt sie sind. Richter erzählt stolz: "Zuletzt hat eine über 50-jährige Mitarbeiterin, die vorher noch keine Ausbildung hatte, einen offiziellen IHK-Abschluss gemacht."

Mit Workforce Management Wertschätzung zeigen

Es gibt also einige Optionen, die Arbeitsbedingungen von Beschäftigten, die nicht am Schreibtisch arbeiten, zu verbessern. In vielen Unternehmen scheitern diese aber vor allem an der Umsetzung. Werden die Bedürfnisse der Deskless Workforce ignoriert, hat das auch einen hohen Preis – und der ist weit größer als der wirtschaftliche Schaden, der durch den Arbeitskräftemangel entsteht. Viel verheerender sind die Folgen für die Gesellschaft, die durch die Frustration der vergessenen Arbeitskräfte immer mehr gespalten wird. Neben mehr Mitsprache verdienen Blue-Collar-Worker vor allem mehr Anerkennung, und zwar auf mehreren Ebenen. "Es geht um Anerkennung der körperlichen Belastungen – besonders für ältere Mitarbeitende –, Anerkennung durch einen fairen Umgang von Vorgesetzten und nicht zuletzt natürlich monetäre Anerkennung", fordert Hans Rusinek. Er betont die Bedeutung von Fairness, die sich am Arbeitsplatz fast überall stellt: "Nicht nur, wenn Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, sondern auch wenn es darum geht, wer eingestellt wird, wer die Lorbeeren erntet, wenn etwas gut läuft, bei wem sich CEOs bedanken, wie ihre Boni ausfallen, wer den schönen Schreibtisch direkt am Fenster hat und wer hingegen im Rohrgraben arbeiten muss." Ein erster Schritt wäre demnach mehr Aufmerksamkeit für die vergessene Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung. Der zweite und wichtigere Schritt ist die tatsächliche Umsetzung der Maßnahmen.


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Schlagworte zum Thema:  Arbeitszeit, Schichtarbeit, Personalplanung