Zukunftsforscher prognostiziert Feminisierung der Arbeitswelt
Welche Entwicklung wird Deutschland 2017 besonders prägen?
Reinhardt: Das kommende Jahr wird durch den Trend zur nationalen Abschottung geprägt werden. Geschlossene Grenzen, die Betonung eigener Interessen oder auch Debatten um "wir" und "die anderen" werden zunehmen. Politik, Wirtschaft, Medien und Institutionen werden daher besonders gefordert sein, nicht nur auf die jeweils aktuelle Stimmungslage zu reagieren, sondern langfristige und nachhaltige Lösungen zu präsentieren.
Welcher große Trend wird - nach Digitalisierung, Globalisierung, Spaltung vieler Gesellschaften - in den kommenden fünf Jahren besonders wichtig?
Reinhardt: Die Sehnsucht nach Beständigkeit. In einer zunehmend komplexeren Welt steigt in der Bevölkerung das Bedürfnis nach Konstanz und Verlässlichkeit. Viele Bürger haben das Gefühl, mit dem Tempo, in dem sich wie Welt verändert, nicht mithalten zu können und fühlen sich zunehmend überfordert. Parallel schwindet das Vertrauen in Politik und Unternehmen, Medien und Institutionen. Einen Bedeutungszuwachs erfahren dagegen die Familie, Freunde und Nachbarschaft - stehen diese doch für Sicherheit und Verlässlichkeit, Konstanz und Beständigkeit.
Welches Produkt oder welche Entwicklung wird das Alltagsleben der Menschen hierzulande in den nächsten Jahren besonders stark verändern?
Reinhardt: Die Feminisierung der Arbeitswelt. Seit Jahren erlangen mehr Frauen als Männer das Abitur, sie haben im Durchschnitt stets die besseren Noten und studieren häufiger als Männer. Dies wird zwangsläufig zu Veränderungen in der Arbeitswelt führen, da Unternehmen den Wettbewerbsvorteil durch mehr weibliche Führungskräfte erkennen und nutzen werden. Und wenn zunehmend mehr Frauen Hauptverdiener sind, werden mehr Männer in Teilzeit tätig seien und die Betreuung des Nachwuchses oder der Eltern übernehmen. Technische Entwicklungen wie automatisiertes Fahren, Drei-D-Druck, Internet der Dinge oder die Digitalisierung in der Arbeitswelt werden dagegen noch mehr Zeit benötigen, um wirklich das Alltagsleben der Bevölkerung zu beeinflussen. Und selbst wenn eines Tages die Technik so weit ist, wird sie das Leben nicht revolutionieren, sondern nur optimieren.
Wovor sollten sich die Deutschen 2017 besonders hüten?
Reinhardt: Vor einem verklärten Blick auf die Vergangenheit und Angst vor der Zukunft. Früher war nicht alles besser, und die gute alte Zeit ist mehr Mythos als Realität. Zukünftig wird die Lebenserwartung weiter steigen und die Kindersterblichkeit sinken, die Bürger werden weniger arbeiten und mobiler sein, die medizinische Versorgung wird noch besser werden. Hüten wir uns also vor einer unbegründeten Zukunftsangst und zeigen wir stattdessen einen begründeten Zukunftsoptimismus.
In Ihrem Themenbereich, wo sehen Sie 2017 die größten Chancen, wo die größten Risiken für Deutschland?
Reinhardt: Deutschland steht an einem Scheideweg und muss die Frage beantworten: Wie wollen wir zukünftig leben? Zweifellos sind einige Ängste und Sorgen durchaus berechtigt. Auch hört sich so manche derzeit diskutierte Idee auf den ersten Blick durchaus verführerisch an. Und sicherlich mag vieles technisch gesehen in Zukunft durchaus möglich sein. Das Risiko ist daher groß, schnell pauschale Antworten zu suchen, sich blind auf die Technik zu verlassen und dem Gefühl nachzugeben, ohnehin nichts verändern zu können. Gleichzeitig bietet sich aber auch die Chance darüber nachzudenken, was wirklich wichtig im Leben ist und in was für einer Welt wir und kommende Generationen leben wollen. Soll der Mensch der Wirtschaft dienen oder die Wirtschaft dem Menschen? Was ist wichtiger, Lebensstandard oder Lebensqualität, Zeit oder Geld? Soll im Egoismus oder in der Gemeinschaft die Zukunft liegen?
Professor Ulrich Reinhardt ist Zukunftswissenschaftler und seit 2011 Wissenschaftlicher Leiter der "Stiftung für Zukunftsfragen" in Hamburg.
Das Interview führte Petra Kaminsky, Deutsche Presse-Agentur (DPA).
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