Bei der Entwicklung von Firmenkulturen kommt es immer wieder zu hitzigen Debatten über Werte. Welche sind wichtig, welche nicht? Welche Werte machen uns einzigartig, ja generieren sogar einen Wettbewerbsvorteil? Ein spannender Prozess. Je bewusster Menschen in Unternehmen werden, desto klarer erkennen sie die enorme schöpferische Kraft, die durch gelebte Werte entstehen kann. Also wird viel Zeit und Geld in die Ausarbeitung eines Firmenleitbildes mit den dazu passenden Werten investiert. Umso frustrierender wird der anschließende Transferprozess in die Praxis erlebt. Trotz bester sprachlicher Formulierungen und visueller Aufbereitung gestaltet sich die Umsetzung schwieriger als ein Marathonlauf im Treibsand. Warum ist das so? Welche Kräfte sind hier am Werk?
Fehler liegt bei anderen
Seit sechs Jahren erforschen wir im Institut den Wert Verantwortung. Warum? Damit wir eine glasklare Methodik und Didaktik zum Erlernen von Verantwortungsbewusstsein zur Verfügung stellen können. Dabei messen wir jedes Mal die Sehschärfe von Verantwortung nach außen und nach innen – also wie klar wir die Verantwortung anderer wahrnehmen (außen), und wie klar wir unsere eigene Verantwortung sehen (innen). Seit sechs Jahren ähneln sich die Ergebnisse wie folgt: Wir sehen die Verantwortung anderer um über 30 Prozent präziser und klarer als unsere eigene. Daraus folgt, dass wir die Verfehlungen anderer ebenfalls um ein Drittel klarer sehen als unsere eigenen und dass die meisten sich für weit besser halten, als sie sind.
Verzerrte Wahrnehmung: Nicht nur wollen, auch leben
Diese Überlegenheitsillusion lässt eine interessante Verzerrung entstehen, die nach unseren 24 Jahren Erfahrung die größte Hürde beim Transferprozess von Werten in die Praxis ist. Es ist der Unterschied zwischen "erleben wollen" und "vorleben wollen". Bei der Frage an die Teilnehmenden, ob Respekt ein wichtiger Wert ist, gibt es einhellig Zustimmung. Bei der Frage, woran sie Respekt erkennen, wird es interessant. Antworten wie: "wahrgenommen werden", "anerkannt werden", "nicht übergangen werden" oder "Wertschätzung erfahren", kommen am häufigsten vor. In Summe also "respektiert werden". Respekt von anderen erfahren. Dieses Ergebnis wird bei der Vertiefung von anderen Werten bestätigt. Bei dem Wert "Liebe" ist die Einsicht am drastischsten. Hier ist die Erkenntnis, dass wir primär geliebt werden als Liebe in das Leben geben wollen, für die Teilnehmenden sehr ernüchternd.
Führungskräfte in Verantwortung
Das wirft eine spannende Frage auf: Wer solle einen Wert überhaupt vorleben, wenn so viele ihn nur erleben wollen? Wer gibt ihn ins Leben? Ach ja. Die Führungskräfte! Doch wenn wir die Verfehlungen anderer um 30 Prozent klarer erfassen als unsere eigenen, können Führungskräfte die Werte dann überhaupt so vorleben, wie wir es brauchen? Und das ist jedes Mal der Augenöffner und der Grund, warum Werte so schwer in der Praxis umgesetzt werden können. Es gilt: Je mehr Menschen diese Verzerrung bewusst wird, desto besser gelingt die Transformation einer Firmenkultur. Dabei ist natürlich das Vorleben an der Firmenspitze von hoher Bedeutung. Aber eben jedoch bei Weitem nicht alles.
Uns sind Werte wichtig, und vor allem, dass wir sie von anderen erfahren. Und viel weniger, dass wir sie ins Leben geben. Am besten lässt sich das am Modewert und Modewort "Wertschätzung" festmachen. Ein wunderbarer Begriff, der in der Praxis leider zur "Ober-Anklage-Einforderung" mutiert ist. Dieser andauernde Suchmodus, ob andere uns bloß genug wertschätzen, hat Folgen. So wird berechtigte Kritik von außen im Konflikt mit dem inneren Wunsch nach Bestätigung gern als Mangel an Wertschätzung interpretiert. Und das lässt uns mit moralischen Vorwürfen auf den gefühlten Mangel reagieren.
Werte: Verzerrung überwinden
In Summe: Die meisten reden von Respekt und wollen dabei primär respektiert werden. Genauso Loyalität erfahren, Vertrauen erleben, Wertschätzung erhalten und anerkannt werden. Wie sehr diese Verzerrung im Alltag am Arbeitsplatz unsere Sinne vernebelt und die Transformation von Firmenkulturen erschwert, ist den wenigsten bewusst. Bitte sei du so clever und überwinde bei dir und deinem Umfeld genau diese Hürde. Immer wieder. Das wünsche ich dir von Herzen!
Über den Kolumnisten: Boris Grundl ist Führungskräftetrainer und gilt bei Managern und Managerinnen sowie Medien als "Der Menschenentwickler" (Süddeutsche Zeitung). Er ist Inhaber des Grundl Leadership Instituts, das Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Dafür erforscht, testet und lehrt das Institut hochwertige, praxisrelevante Unterscheidungen - als Voraussetzung für Wahrnehmung und Erkenntnis.