In der positiven Psychologie gibt es sechs Tugenden und daraus abgeleitet 24 Charakterstärken, die mit einem Test gemessen werden können. Die sechs Tugenden sind:
- Weisheit und Wissen (kognitive Stärken): Kreativität, Neugier, Lernfreude
- Courage (emotionale Stärken): Tapferkeit, Beharrlichkeit, Integrität, Vitalität
- Menschlichkeit (interpersonale Stärken): Liebe, Freundlichkeit, soziale Intelligenz
- Gerechtigkeit (zivile Stärken): soziale Verantwortung, Fairness, Führungsstärke
- Mäßigung (Stärken, die gegen Exzesse schützen): Vergeben, Mitleid, Demut und Bescheidenheit, Besonnenheit, Selbstregulation
- Transzendenz (spirituelle Stärken, die mit Bedeutsamkeit zu tun haben): Wertschätzung von Schönheit und Exzellenz, Dankbarkeit, Hoffnung, Humor, Spiritualität.
Fünf Prozessphasen im Coaching auf Basis positiver Psychologie
In der Unternehmenspraxis spielt die Positive Psychologie beispielsweise in Form des Positive-Leadership-Konzepts eine Rolle. Judith Mangelsdorf, Leiterin der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychologie, beschreibt in ihrem Buch "Positive Psychologie im Coaching" (Springer, 2021) den Positive-Coaching-Ansatz. Er besteht aus fünf Prozessphasen:
- Positivität in der Kennenlernphase. Es handelt sich um ein lösungsorientiertes Verfahren, das auch auf das Persönlichkeitswachstum des Klienten achtet. Insbesondere werden die persönlichen Stärken des Klienten nutzbar gemacht. Es werden positive Emotionen hervorgerufen. Sie sollen das Coaching beschleunigen und Lösungen finden helfen.
- Zielsetzung. Es geht eher um den Lebenssinn als um ein aktuelles Problem des Klienten.
- Positive Diagnostik. Das Wohlbefinden wird als Maß für die Güte eines Coaching-Prozesses definiert. Es werden die positiven Merkmale des Klienten herausgearbeitet (persönliche Stärken, eigene Werte, individueller Lebenssinn). Je besser eine Person ihr positives Potenzial kennt, desto passender kann sie im Coaching Lösungen für sich entwickeln.
- Gestaltung der Prozessarbeit. Wachstum und Erkenntnis sollen ermöglicht werden, damit sich das Potenzial des Klienten entfalten kann. Stärken werden aktiv eingebunden.
- Abschluss. An konkreten Beispielen wird dem Klienten sein individuelles Wachstum zurückgemeldet.
Wenn ein Klient sich nicht im Klaren über seine Stärken ist, sollen folgende Fragen helfen ...
- Worauf in Ihrer Vergangenheit sind Sie stolz?
- Was in der Gegenwart gibt Ihnen am meisten Kraft?
- Worauf in naher Zukunft freuen Sie sich?
Bekannt wurde die Positive Psychologie auch an kleinen Übungen, die den Wahrnehmungsfokus auf die positive Seite des Lebens lenken sollen. Eine Aufforderung lautet: Nehmen Sie sich am Ende jeden Tages fünf Minuten Zeit, um die drei Dinge niederzuschreiben, für die Sie an diesem Tag dankbar sind. Eine andere Übung lautet: Beantworten Sie am Ende des Tages folgende Fragen:
- Was hat mir heute Freude bereitet?
- Wofür und wem kann ich heute dankbar sein?
- Wo habe ich mich heute lebendig gefühlt?
- Welche Stärken konnte ich heute ausleben.
Eine dritte Übung besteht darin, dass sich der Klient jeden Tag 20 Minuten Zeit nehmen muss, um eine Tätigkeit zu verrichten, die er als erholsam erlebt. Die aktive Regeneration gilt als eine Strategie, um von Tag zu Tag glücklicher zu werden.
Gängige Kritik an der Positiven Psychologie
Die Zeitschrift Psychologie heute (Heft 10/2019) fasst die Kritik an der Positiven Psychologie so zusammen: Sie überbetone Positives und führe gar zu einer Tyrannei des Positiven. Ihre Vertreter hätten Studienergebnisse übertrieben und machten überzogene Versprechungen, wie man ein glückliches Leben führen könne. Insbesondere die Übung, jeden Abend drei positive Erlebnisse aufzuschreiben, hätte selten den erhofften Effekt. Außerdem würde der Einfluss externer Umstände und der Einfluss der Gesellschaft auf ein individuelles Leben außer Acht gelassen. Der Gründer der Positiven Psychologie, der US-Professor Martin Seligmann, räumte in derselben Zeitschrift ein, dass im Laufe seiner Professorenkarriere nur etwa ein Drittel seiner wissenschaftlichen Ansätze richtig gut gewesen seien.
Die international bekannte Professorin Gabriele Oettingen hat in ihrem Buch Die Psychologie des Gelingens (München 2015) nachgewiesen, dass es – wenn man Ziele erreichen will – keinesfalls förderlich ist, nur positive Gefühle zu stimulieren. Wirksamer sei es, neben der Imagination positiver Ergebnisse zusätzlich darüber nachzudenken, welche (mit negativen Gefühlen besetzten) Hindernisse überwunden werden müssen und wie dieses Überwinden konkret gelingen kann. Das "Schwelgen in positiven Fantasien" aktiviert laut Oettingen bei Schwierigkeiten viel zu wenig Energie, um ein Ziel zu erreichen.
Der Osnabrücker Psychologieprofessor Siegfried Greif ergänzt in seinem Buch "Was ist Coaching?" (Hamburg 2021) die Kritik an der zwanghaften Konzentration auf das Positive mit folgenden Worten: "Wenn Klienten im Coaching ausführlich über ihre negativen Emotionen berichten wollen, dann (...) wäre es für diese Klienten in der Regel kaum nachvollziehbar, wenn ihr Coach nicht intensiv darauf einging". Laut Greif ist es nicht sinnvoll, Klienten von der Schilderung negativer Gefühle abzuhalten. Diese seien nicht schädlich, sondern könnten vom Coach vielmehr geschickt zur Lösungsorientierung genutzt werden. Greif spricht von einer "Positiven Psychologie 2.0", bei der das Reden über Negatives nicht verhindert wird. Insofern hebe sich diese "Positive Psychologie 2.0" letztlich selbst auf und münde auf einem ganz leicht nachvollziehbarem Weg in eine allgemeine Psychologie ein, in der positive wie negative Erfahrungen gleichermaßen besprochen und bearbeitet würden. Die "alte" Positive Psychologie habe sich durch eine Festlegung auf ausschließlich positive Aspekte beim Thema Zielerreichung viel zu einseitig ausgerichtet.
Lesen Sie diesen Beitrag auch in Ausgabe 7+8/2022 der Zeitschrift "wirtschaft+weiterbildung".