Führungsdebatte: Existenzanalyse versus Systemtheorie

In der aktuellen Diskussion um New Work kommt es zu einer Wiederbelebung der Diskussion, ob es sich Führungskräfte leicht machen und nur eine Rolle spielen sollten oder ob sie es wagen könnten, authentisch als ganzer Mensch mit eindeutigen Werten in Erscheinung zu treten. Die Universität Bielefeld hat dazu eine Tagung veranstaltet, die unter dem Titel "Systemtheorie meets Existenzanalyse" stand.

Die Wirtschaft müsse menschlicher werden und das schaffe sie nur, wenn es den Mitarbeitenden der Unternehmen ermöglicht werde, mehr auf ihre inneren Werte zu achten und sich für eine für sie sinnvolle Sache zu engagieren. Insbesondere solle sich niemand hinter einer "Rolle", die er zu spielen habe, verstecken. "Der Fokus muss mehr auf dem Menschen und seiner Persönlichkeit liegen", forderte Professor Alfried Längle, Ehrenpräsident der Internationalen Gesellschaft für Existenzanalyse und Logotherapie, bei der Eröffnung der Tagung "Leadership und Coaching zwischen Person und Rolle". Die Veranstaltung wurde Ende November von der Universität Bielefeld und der Unternehmensberatung Dimension 21 GmbH in Bielefeld durchgeführt.

Erleichtern berufliche Rollen das Handeln?

Die Gegenposition vertrat Torsten Groth, geschäftsführender Gesellschafter von Simon Weber and Friends, einer der führenden Beratungsgesellschaften, die sich auf eine systemische Organisationsberatung auf der Basis der Systemtheorie von Niklas Luhmann spezialisiert hat. Groth betonte, dass es sehr nützlich sei, den Mitarbeitenden von Unternehmen Rollen zuzuweisen, weil so Komplexität reduziert werde. Rollen machten klar, was von einem erwartet werde und erleichterten es dem Einzelnen, sich im Sinne seines Arbeitgebers an der Unternehmensstrategie auszurichten. Wenn eine Führungskraft gezwungen sei, Entlassungen auszusprechen, dann sei es hilfreich, diese Entlassungen aus der Rolle des "Bereichsleiters" heraus vorzunehmen und dadurch mögliche Schuldgefühle abzumildern, die selbst mit ökonomisch gerechtfertigten Entlassungen verbunden sein können. Die eigene Persönlichkeit zurückhalten zu dürfen, ist laut Groth einer der großen Vorteile der beruflichen Rollen – ganz abgesehen davon, dass man einem Menschen nie eine klar definierte Persönlichkeit unterstellen könne. Je nach Situation stünden bei vielen Menschen unterschiedliche Werte im Vordergrund. Und je nach konkretem Kontext würden Menschen auch zu ganz unterschiedlichen Handlungen neigen.

Trainieren Rollen den Führungskräften das Menschliche ab?

Die Existenzanalyse, eine auf Sinn hin ausgerichtete Therapierichtung, die die Freiheit einer Person stärken will, betont dagegen, dass kein Mensch das Persönliche vollständig verstecken könne. "Die Arbeitnehmer sind keine Pokerspieler", sagte Längle. "Man kann sich als Chef zwar eine professionelle Maske aufsetzten und sich das Persönliche abtrainieren, aber sehr menschlich ist das nicht." Der Wiener Professor wies darauf hin, dass es seit einiger Zeit zu einer Wiederbelebung des Spannungsfelds zwischen Person und Rolle komme. Trends wie Purpose, New Work, Holacracy oder auch Agilität zielten darauf ab, dass Führungskräfte und Mitarbeitende sich wieder mehr als ganzheitlicher Mensch in einer Organisation wiederfinden wollten. Die Arbeit solle persönlich bereichern und zu den eigenen Werten passen. Künftig wird laut Längle die subjektive Perspektive in der Arbeitswelt im Vordergrund stehen. Es gehe mehr um Individualität, Anteilnahme, Empathie und Wertschätzung sowie um Authentizität.

Individualität ausleben versus effizient arbeiten?

Mit Blick auf aktuelle Trends betonte Groth, dass der Wert von Agilität durchaus gelegentlich in Zweifel gezogen werde. Es werde durchaus auch wieder mehr gewünscht, Teamorganisationen abzuschaffen, weil so langatmige Diskussionen von "individualistisch" ausgerichteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abgekürzt würden und Entscheidungen einem Rollenträger klar zugeordnet werden könnten. Ansonsten gelte auch in den New-Work-Organisationen, dass jedes Mitglied einer Organisation schon allein aufgrund seiner Mitgliedschaft einige Tätigkeiten zu erledigen habe, die ihm nicht zusagten, die aber einfach gemacht werden müssten, um ein auf Arbeitsteilung basierendes Unternehmen am Laufen zu halten. Bewerberinnen und Bewerbern einzureden, sie und der künftige Arbeitgeber wollten immer das Gleiche, gehe an der Wirklichkeit vorbei, meinte Groth. "Es gibt in jedem Unternehmen nicht verhandelbare Funktionsprinzipien und eine Hierarchie, die schnelle Entscheidungen ermöglicht, gehört nun einmal dazu."

Unüberbrückbare Widersprüche zwischen Mensch und Organisation?

Aus Sicht der Organisationssoziologie kann man sich mit dem Vorhandensein von Rollen gut anfreunden, wenn man ein Unternehmen mit den Augen von Niklas Luhmann betrachtet. Der hatte nämlich erklärt, dass man weniger auf die dort arbeitenden Menschen schauen sollte, sondern vielmehr auf die herrschenden Spielregeln sowie Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen. Unternehmen sind Organisationen, die an erster Stelle das langfristige Überleben als Ziel haben. Sie reagieren in diesem Zusammenhang nur auf Zahlungseingänge und Zahlungsausgänge. Moralische Appelle ("Mitarbeitende gut behandeln") haben so lange keine Auswirkung, wie sie sich nicht in höheren Einnahmen oder geringeren Ausgaben bemerkbar machen.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Organisationssoziologie vor diesem Hintergrund einige Widersprüche zwischen Mensch und Organisation sieht: Der Mensch will einzigartig und unersetzbar sein, die Organisation braucht die Austauschbarkeit der Mitglieder. Der Mensch will Autonomie, die Organisation will zentrale Steuerung. Der Mensch will kompetent sein, die Organisation will innovativ sein und das bedeutet, dass sich der Mensch ständig in etwas Neues einarbeiten muss und sich dabei als inkompetent erlebt. Der Mensch will Harmonie, die Organisation braucht Konflikte, weil jede Anpassung an sich verändernde Märkte Streit zwischen den einzelnen Teilen eines Unternehmens erzeugt. Aus dieser Aufzählung folgt laut Luhmann, dass menschliche Bedürfnisse und die Bedürfnisse einer Organisation in einem grundlegenden Widerspruch zueinander stehen. Es ist deshalb riskant, wenn Mitarbeitende anfangen, ihren Selbstwert über ihre Arbeit zu definieren. Nur mit der Einnahme von Rollen gelingt es, die nötige Distanz zum Auf und Ab des Wirtschaftslebens zu bewahren.


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