"Ich habe kein Problem mit (negativer) Kritik." Es gibt wohl keinen Satz, der die Kluft zwischen Wunsch und Realität besser darstellt als dieser. Jeder, der die Verantwortung übernommen hat, andere zu entwickeln, weiß, wie schwer sich Menschen mit kritischem Feedback tun. Ich bin der Meinung: Das ganze Thema ist inzwischen völlig aus dem Ruder gelaufen. Die Akteure haben verlernt, vernünftig in Rede und Gegenrede zu kommunizieren.
Der Grund: Wir nehmen kritische Rückmeldungen sehr schnell persönlich. Das sehen wir jeden Tag. Bekommt jemand negatives Feedback, reagieren viele nicht auf den Inhalt der Aussage, sondern stürzen sich vielmehr auf die Art und Weise der Vermittlung. Der eine stellt zum Beispiel den Zeitpunkt des Echos infrage. Ein anderer moniert die mangelnde Wertschätzung, die der Kritisierende an den Tag legt. Im Kern bedeutet das: Der Empfänger schiebt das Thema zur Seite. Er greift den Boten an, damit er sich nicht mit der Botschaft beschäftigen muss.
Der Fehler der Anderen wiegt schwerer als der eigene
Warum ist das so? Die Wahrheit lautet: Menschen nehmen die Verantwortung anderer um ein Drittel besser wahr als ihre eigene. Auch Verstöße sehen wir bei anderen wesentlich klarer als bei uns selbst. Daraus folgt, dass wir uns selbst als besser wahrnehmen, als wir sind. Die Überlegenheitsillusion lässt grüßen. All das haben wir mit unserem Institut sogar valide statistisch überprüft, siehe Verantwortungsindex.
Die meisten denken, dass sie mit Feedback gut umgehen können. Genau hier reißt die Kluft auf. Weil es sozial erwünscht ist, glauben wir nur, negative Kritik gut händeln zu können. Unbewusst leiden wir jedoch darunter. Vielmehr wünschen wir uns primär Bestätigung, weil uns die innere mentale Klarheit und Stärke fehlt, mit allen Formen von Ablehnung umzugehen. Vielleicht wurden wir durch den Wohlstand und Überfluss unserer Zeit zu sehr verwöhnt. Nach dem Motto: Wenn wir allen Schmerzen aus dem Weg gehen, entsteht Glück und Lebensfreude. Dabei wissen wir längst: Je mehr Probleme und Schwierigkeiten wir lösen, mentale Schmerzen annehmen und transformieren, desto weiter entwickelt sich unsere Persönlichkeit. Soweit zur Annahme von Kritik.
Meist liegt die Verantwortung mehr bei dem Kritisierten
Natürlich hat auch der Sender eine Verantwortung. Formuliert er seine Einschätzung mit dem inneren Wunsch, das Beste aus dem Gegenüber herauszuholen, macht er alles richtig. Wenn hingegen jemand andere durch Tadel und Verriss klein halten will, folgt eine entsprechende Gegenreaktion. Nach 23 Jahren Erfahrung in der Transformation von Firmenkulturen weiß ich: Ein Drittel der Verantwortung liegt an der Qualität des Kritikübenden, zwei Drittel liegen an der erlernten Mimosenhaftigkeit der Empfänger. In der öffentlichen Diskussion sieht die Einschätzung oft anders aus: Hier liegen drei Viertel der Verantwortung beim Sender und nur ein Viertel liegt beim Rezipienten. Für mich ist das eine Verzerrung der Realität. Ist diese Verzerrung aufgelöst, hilft das beiden Seiten.
Wer Orientierung sucht, findet im Folgenden mögliche Wege, wie Menschen auf unangenehme Botschaften reagieren können:
- Verleugnung: Manche Betroffene leugnen und ignorieren Kritik, weil sie sich unwohl fühlen oder sich nicht mit ihr befassen möchten.
- Defensive Reaktionen: Manche reagieren defensiv, weisen negative Resonanz zurück oder rechtfertigen, warum sie so gehandelt haben.
- Akzeptanz und Überlegung: Andere können kritische Stimmen akzeptieren und darüber nachdenken, was sie tun können, um die Situation zu verbessern.
- Selbstreflexion: Wieder andere nutzen das Thema als Chance zur Selbstreflexion, um herauszufinden, was sie in Zukunft besser machen können.
Besonders in der heutigen Zeit ist es extrem wichtig, Kritik konstruktiv und respektvoll zu äußern. Nur so kann sie gut ankommen. Ebenso sollten Empfänger sie als Chance sehen und nicht als persönliche Attacke interpretieren. Nur so können Menschen lernen und wachsen. Mein Wunsch an Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeitende: Bitte klären Sie den Unterschied in Ihrem Umfeld und Ihrem Team. Immer und immer wieder. Ich bin mir sicher, dass das Thema regelmäßig wieder aufkommen wird. Meist unbewusst. Mit einem einzigen Gespräch ist die Problematik leider lange nicht vom Tisch.
Über den Kolumnisten: Boris Grundl ist Führungskräftetrainer und gilt bei Managern und Managerinnen sowie Medien als "Der Menschenentwickler" (Süddeutsche Zeitung). Er ist Inhaber des Grundl Leadership Instituts, das Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Dafür erforscht, testet und lehrt das Institut hochwertige, praxisrelevante Unterscheidungen - als Voraussetzung für Wahrnehmung und Erkenntnis.