Nachrücken entfernterer Abkömmlinge und Pflichtteil

Nach Auffassung des BGH besteht ein gesetzliches Erbrecht des entfernteren Abkömmlings auch dann, wenn der nähere Abkömmling testamentarisch enterbt wurde. Ob diesem der Pflichtteil wirksam entzogen wurde, kann auch in dem Rechtsstreit über den Pflichtteilsanspruch zwischen dem entfernteren Abkömmling und dem Erben geklärt werden.

Der Fall: Sohn enterbt, (nur) ein Enkel bedacht

Der Kläger ist ein Enkel der 2007 verstorbenen Erblasserin. Die Großeltern hatten seinerzeit in einem gemeinschaftlichen Testament sich selbst gegenseitig als Erben des Erstversterbenden und ihren Sohn, den Vater des Klägers, als Alleinerben des Längerlebenden eingesetzt. Später änderte die Großmutter diese Verfügung jedoch wieder, enterbte den Sohn, entzog ihm den Pflichtteil und setzte ihren zweiten Enkel, den Bruder des Klägers, als Alleinerben ein. Der Kläger wurde in dem neuen Testament nicht bedacht. Im Wege der Stufenklage klagte er deshalb auf Auskunft und Auszahlung des Pflichtteils.

Die Entscheidung: Pflichtteilsrecht des übergangenen Enkels?

Im Prozess war die streitige Frage zu klären, ob dem nicht bedachten Enkel infolge der Enterbung des Sohnes (seines Vaters) nun seinerseits ein Pflichtteilsrecht zustand. Schließlich wäre er infolge der Enterbung seines Vaters neben seinem Bruder nächstberufener gesetzlicher Erbe gewesen.

Die Vorinstanzen hatten ein Pflichtteilsrecht des übergangenen Enkels schon aus dem Grund abgelehnt, weil nicht feststehe, dass die Pflichtteilsentziehung wirksam gewesen sei. Dies könne in diesem Rechtsstreit auch nicht wirksam festgestellt werden, da der Vater der Parteien, dem der Pflichtteil entzogen wurde, nicht beteiligt sei.

Ob der entferntere Abkömmling auch dann als gesetzlicher Erbe berufen ist, wenn der nähere Abkömmling durch Verfügung von Todes wegen enterbt wurde, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt.

„Nachrücken“ des Enkels nach Enterbung des Sohnes?

Der Bundesgerichtshof schloss sich der bereits vom Reichsgericht vertretenen Auffassung an, die den Eintritt des entfernteren Abkömmlings in das gesetzliche Erbrecht infolge einer letztwilligen Ausschließung des näheren Abkömmlings bejaht. Zwar habe der Gesetzgeber für ähnliche Fallkonstellationen wie die Ausschlagung (§ 1953 Abs. 2 BGB), die Erbunwürdigkeit (§ 2344 Abs. 2 BGB) sowie den (beschränkten) Erbverzicht (§ 2346 Abs. 1 Satz 2, § 2349 BGB) eine Regelung getroffen, dass in diesen Fällen die Erbschaft demjenigen anfällt, welcher berufen sein würde, wenn der Weggefallene zur Zeit des Erbfalls nicht gelebt hätte, eine entsprechende Regelung für den Fall der Enterbung aber unterlassen. Gleichwohl bejaht er mittels historischer Auslegung unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der betreffenden Normen den Eintritt des enfernteren Abkömmlings auch für die Konstellation der Ausschließung des näheren Abkömmlings durch Verfügung von Todes wegen.

Die Enterbung des näheren Abkömmlings führe zunächst nur zum Einrücken des entfernteren in die Stellung als gesetzlicher Erbe. Erst durch eine weitere Verfügung, mit der nunmehr auch der entferntere Abkömmling von der Erbfolge ausgeschlossen werde, komme diesem aber eine Pflichtteilsberechtigung nach § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB zu, welche  in dem selbständigen Erbrecht des entfernteren Abkömmlings gründe.

Infolge der Einsetzung des Bruders zum Alleinerben sei der Kläger – stillschweigend – durch Verfügung von Todes wegen von der gesetzlichen Erbfolge nach seiner Großmutter  ausgeschlossen worden und habe hierdurch ein Pflichtteilsrecht nach § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB erlangt.

Enkel durch § 2309 BGB „gesperrt“?

Somit war nur noch die Frage zu klären, ob der Kläger nicht vielleicht durch die Vorschrift des § 2309 BGB an der Geltendmachung des Pflichtteils „gesperrt“ war. Infolge der Enterbung von Abkömmlingen mehrerer Stufen komme es zu einer Konkurrenz von Pflichtteilsansprüchen, welche durch § 2309 BGB geregelt wird. Danach ist ein entfernterer Abkömmling insoweit nicht pflichtteilsberechtigt, als ein Abkömmling, der ihn im Falle der gesetzlichen Erbfolge ausschließen würde, den Pflichtteil verlangen kann oder das ihm Hinterlassene annimmt. Dem Kläger als entfernterem Abkömmling steht daher ein Pflichtteilsrecht zu, wenn und soweit sein Vater als näherer Abkömmling selbst den Pflichtteil nicht fordern kann, weil dieser ihm wirksam nach § 2333 BGB entzogen wurde.

Nicht, wenn Pflichtteil wirksam entzogen

Der BGH erachtet die im notariellen Testament ausgesprochene auf § 2333 Nr. 3 BGB a.F. (schweres vorsätzliches Vergehen gegen den Erblasser) gestützte Entziehung des Pflichtteils aufgrund der Verfehlungen des Sohnes als wirksam: Dieser hatte nach dem Tod des Vaters zunächst die Regelung der finanziellen Angelegenheiten der Erblasserin – seiner Mutter -  übernommen. Später hatte er jedoch einen für die Reparatur des Elternhauses vorgesehenen Geldbetrag i.H.v. 72.000 DM für sich vereinnahmt statt ihn für die Reparaturarbeiten zu verwenden und außerdem einen Goldbarren im Werte von 20.000 DM, den seine Mutter als Notgroschen aufbewahrt hatte, nicht mehr herausgegeben.

Anders als von der Vorinstanz angenommen, könne die Wirksamkeit der Pflichtteilsentziehung auch im Rechtsstreit zwischen dem entfernteren Abkömmling und dem Erben geklärt werden. Sonst drohe ein kollusives Zusammenwirken von (enterbtem)  näheren Abkömmling und dem Erben zu Lasten des (übergangenen) entfernteren Abkömmlings, so der BGH.

Somit gelangten hier die beiden Enkel, nicht aber ihr Vater zur gesetzlichen Erbfolge, nachdem die Erblasserin diesen durch den Widerruf seiner bisherigen Erbeinsetzung enterbt hatte. Hierzu sei die Erblasserin berechtigt gewesen, weil ihr Sohn sich einer Verfehlung schuldig gemacht hatte, die sie nach § 2333 Nr. 3 BGB a.F. zur Entziehung des Pflichtteils berechtigte.

(BGH, Urteil vom 13. April 2011,  IV ZR 204/09)


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